3D Modell menschlicher Neuronen

SSRI: Wie Antidepressiva wirklich wirken

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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SSRI-Tabletten erhöhen den Spiegel des Glückshormons Serotonin im Gehirn ziemlich schnell. Warum aber dauert es dann Wochen, bis sie wirken? Eine Erklärung liefern Bilder aus dem depressiven Gehirn.

Jeder fünfte Menschen rutscht in seinem Leben in eine depressive Phase, schätzen Experten. Trotzdem weiss man noch immer nicht genau, was dabei im Gehirn passiert. Als wahrscheinlichste Erklärung galt lange die sogenannte Serotoninhypothese: Demnach herrscht im depressiven Gehirn ein Mangel des Botenstoffs Serotonin, der wegen seiner stimmungsaufhellenden Wirkung auch als „Glückshormon“ bezeichnet wird.

Mehr Serotonin, weniger Depressionen?

Auf dieser Hypothese beruht eine ganze Wirkstoffklasse von Antidepressiva: die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI. Serotonin wird unter anderem von den Nervenzellen im Gehirn ausgeschüttet, bindet dann an spezielle Rezeptoren der Nachbarzellen und wird schliesslich wieder von den Neuronen aufgenommen.

SSRI verzögern diesen Aufnahmeprozess, weswegen sich Serotonin zwischen den Nervenzellen anreichert. Dadurch sollte sich auch die Stimmung verbessern. So weit, so nachvollziehbar.

Die Hypothese hat allerdings einen Schönheitsfehler: Die Anreicherung findet recht zügig statt – die Stimmung der Patientinnen und Patienten verbessert sich aber meist erst nach einigen Wochen. Bei manchen Betroffenen funktionieren die Medikamente sogar gar nicht.

Ein Team um Prof. Gitte Knudsen vom Universitätsklinikum Kopenhagen ist der Sache auf den Grund gegangen. Dazu verordneten die Forschenden 17 Personen mit Depressionen SSRI, 14 weitere Teilnehmende erhielten wirkstofflose Placebo-Pillen. Anschliessend untersuchten sie im Abstand mehrerer Wochen immer wieder die Gehirne der Teilnehmenden mit Hilfe einer Positronen-Emissions-Tomografie (PET).

SSRI lassen neue Nervenverbindungen spriessen

Unter anderem ermittelte das Forschungsteam mit dem Gerät die Menge von Glykoprotein 2A in den verschiedenen Hirnregionen. Dieses Protein ist ein Indikator für die Vernetzung der Hirnzellen. Je mehr von diesem Eiweissstoff in einer Hirnregion vorhanden ist, desto höher ist dort die Dichte an Synapsen – das sind jene tentakelartigen Fortsätze der Nerven, über die diese in Kontakt miteinander treten.

Das Ergebnis: Bei Teilnehmenden, die SSRI einnahmen, hatten die Nervenzellen im Neocortex und im Hippocampus mehr Synapsen ausgebildet. Beide Hirnbereiche spielen eine entscheidende Rolle in der Entstehung von Depressionen.

Der Neocortex ist eine komplexe Gehirnstruktur, die für höhere Funktionen zuständig ist, beispielsweise Emotionen, Sinneswahrnehmungen und Denkprozesse. Er nimmt etwa die Hälfte des Hirnvolumens ein. Der Hippocampus wiederum ist eine Hirnstruktur, die tief in der Mitte des Gehirns sitzt. Er ist unter anderem für Gedächtnis und Lernprozesse zuständig.

Bessere Vernetzung wirkt Depressionen entgegen

Mit der besseren Vernetzung von Neuronen in diesen Hirnregionen nimmt die Neuroplastizität zu. Darunter verstehen Mediziner die Fähigkeit des Gehirns, seinen Aufbau und seine Funktionen optimal an neue Einflüsse und Anforderungen anzupassen, beispielsweise an sich verändernde Situationen und Stress. Das erfolgt über die neuronalen Vernetzungen des Gehirns mithilfe neuer Synapsen.

Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass bei Menschen mit Depressionen die Neuroplastizität herabgesetzt ist. Die Wirkung der SSRI könnte den Ergebnissen zufolge darauf beruhen, dass sie die synaptische Dichte im Gehirn und damit die Neuroplastizität fördern.

„Ausserdem deuten unsere Daten darauf hin, dass sich die Synapsen über einen Zeitraum von mehreren Wochen aufbauen. Das würde erklären, warum die Wirkung dieser Medikamente erst nach einiger Zeit einsetzt“, so Studienleiterin Knudsen.

Die Erkenntnisse könnten dazu beitragen, neue Klassen von Antidepressiva zu entwickeln, die die Neuroplastizität gezielt unterstützen.

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Quellen:
  • Johansen, A. et al.: Escitalopram increases synaptic density in the human brain over weeks, Presentation 36th ECNP Congress, Barcelona, 8. Oktober 2023
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