Anne und ihr Mann vor dem Sprachavatar

KI gibt gelähmter Frau ihre Stimme zurück

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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Seine Sprache zu verlieren, macht einsam. Der Verlust schränkt Betroffene stark in ihren sozialen Kontakten ein. Das könnte sich bald ändern: Über Hirn-Computer-Schnittstellen lassen sich künftig Sprachsignale direkt im Gehirn ablesen und mithilfe von künstlicher Intelligenz dechiffrieren.

„Bring mich nicht zum Lachen“, sagt Anne. Ein ganz alltäglicher Satz. Doch diese Worte gehören zu den ersten, die die Frau mit dem grauen Bürstenhaarschnitt nach 18 Jahren zu ihrem Mann spricht. Allerdings formt Anne die Sätze nur im Geiste. An ihrer Stelle spricht ein animierter Avatar die Worte aus.

Sprachlos seit fast 20 Jahren

Bilder von Annes Hochzeit zeigen eine junge Frau mit verschmitztem Lachen unter dem weissen Schleier. Dann kam der Schlaganfall. Seither leidet sie unter dem Locked-in-Syndrom: Sie ist fast vollständig gelähmt, auch die Sprachmotorik ist beschädigt. Doch ihr Verstand ist völlig klar.

Was auf dem Video der University of California zu sehen ist, wirkt wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film: Der Avatar spricht nicht nur, er spricht zudem mit Annes Stimme. Als Grundlage dienen Tonbandaufnahmen, die aus der Zeit vor dem Hirninfarkt stammen. Damals war Anne Mutter eines sechs Monate alten Babys und einer sechsjährigen Tochter. Jetzt sind beide Kinder erwachsen.

Entschlüsselte Sprachsignale aus dem Hirn

Möglich wird das Verfahren durch Sonden, die im Gehirn der Patientin angebracht sind. Sie messen unter anderem die elektrischen Ströme im Sprachzentrum der Frau.

„Es ist möglich, die Hirnsignale von Menschen, die zu sprechen versuchen, in Text umzuwandeln. Wir können aber auch die Befehle ablesen, die das Gehirn den Muskeln gibt, um Laute zu produzieren“, sagt Studienleiter Edward Chang. Übertragen werden die Hirnsignale derzeit noch über ein langes Kabel, das Annes Gehirn mit einem Rechner verknüpft.

Bislang blieb ihr zur Kommunikation nur eine digitale Buchstabentafel, in der sie Buchstaben über den Blick durch eine intelligente Brille auswählen konnte, um so Texte zu produzieren. Doch das ist ausgesprochen mühsam. „Es war schön, wieder ein Gespräch führen zu können. Ich habe vergessen, wie langsam diese Maschine ist“, sagt Anne über die ältere Technologie.

78 Worte pro Minute

Dank der neuen Technologie, die im Schnitt immerhin 78 Worte pro Minute produziert, kann die Patientin nun fast im normalen Tempo Gespräche führen. Möglich gemacht hat das erst die eingesetzte künstliche Intelligenz.

Statt zu versuchen, ganze Wörter aus den elektrischen Impulsen des Gehirns zu dechiffrieren und mit einem vorgegebenen Wortschatz abzugleichen, versucht die KI, einzelne Laute zu erkennen, aus denen sich die Worte zusammensetzen. Dabei arbeitet der Algorithmus mit Wahrscheinlichkeiten: Er berechnet, welcher Laut am ehesten nach einem anderen kommt und welches Wort wahrscheinlich auf ein anderes folgt.

Individuelles Training für bessere Ergebnisse

Da die Sprache jedes Menschen so individuell wie ein Fingerabdruck ist, haben die Wissenschaftler den Algorithmus mit Annes Hirnströmen trainiert. So lernt das Sprachsystem, nach und nach immer besser die Signale aus dem Hirn der Patientin zu deuten.

„Innerhalb von nicht einmal zwei Wochen haben wir eine hohe Leistung erzielt“, schreiben die Autorinnen und Autoren. Inzwischen liege die durchschnittliche Fehlerquote bei der Worterkennung zwar noch immer bei rund 25 Prozent, doch das sei weiter ausbaufähig. „Ich hoffe, das ist nur der Anfang von dem, was künftig möglich sein wird“, sagt Studienleiter Chang.

Sein Team ist nicht das einzige, das an solchen Lösungen arbeitet. Parallel dazu hat eine zweite Forschungsgruppe der Stanford University ihre Ergebnisse veröffentlicht - wie das Team um Chang im Fachblatt Nature. Ihr System hat einer Patientin mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) die Sprache zurückgegeben.

Bald Sprach-Avatare auf dem Smartphone?

Noch gibt es aber lediglich Prototypen der neuen Technologie. Betroffene müssen also noch warten, bis sie einen eigenen Avatar bekommen. Zuvor sollen sowohl Worterkennung als auch das Sprechtempo und auch die Ausdrucksfähigkeit der Avatare weiter verbessert werden. „Kommunikation ist so viel mehr als Worte“, sagt Chang.

Insbesondere feilen die Forschenden zudem an Möglichkeiten, ohne Hirnimplantate und ohne Verkabelung auszukommen. Idealerweise sollen dann Gespräche über das Smartphone möglich werden.

Dank der neuen Technik hofft Anne sogar wieder arbeiten zu können – beispielsweise als Beraterin. „Wir wollen es gelähmten Menschen wieder ermöglichen, zu kommunizieren und ihr volles Potenzial zu nutzen“, so Chang. „Anything is possible“, sagt Annes Avatar. Alles ist möglich.

Wenn Sie Anne selbst beim Sprechen zuschauen möchten, finden Sie das Video der University of California hier.

Autoren- & Quelleninformationen

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Quellen:
  • Sean L. Metzger et al. : A high-performance neuroprosthesis for speech decoding and avatar control. Nature, 2023; DOI: 10.1038/s41586-023-06443-4
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