Genderspezifische Aspekte bei Multipler Sklerose
In Österreich sind rund 12.500 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Im letzten Jahrzehnt wurde eine Zunahme der Erkrankungshäufigkeit bei Frauen beobachtet. Sie erkranken doppelt so häufig wie Männer und weisen zudem einen früheren Krankheitsbeginn auf. Etliche Forschungprojekte gehen gegenwärtig den Ursachen auf den Grund.
Häufigste Erkrankung des Nervensystems bei jungen Erwachsenen
Weltweit sind rund 2,5 Millionen Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. In Österreich leben rund 12.500 Betroffene. Multiple Sklerose ist eine chronische, fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems. Durch entzündliche Veränderungen im Gehirn und im Rückenmark kommt es zu Lähmungen, Gangstörungen, Sehstörungen und anderen neurologischen Beeinträchtigungen. Multiple Sklerose tritt vorwiegend zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr auf, in seltenen Fällen auch bei Kindern und Jugendlichen. Eine Erstdiagnose nach dem 60. Lebensjahr ist selten.
Frauen erkranken doppelt so häufig
In den letzten zehn Jahren wird eine Zunahme der Erkrankungshäufigkeit der Multiplen Sklerose bei Frauen beobachtet, während die Zahl der männlichen Erkrankten konstant blieb. Es gibt Hinweise, dass Frauen einen etwas früheren Krankheitsbeginn aufweisen, in der Symptomatik gibt es jedoch keine geschlechtsspezifischen Unterschiede.
Autoimmunerkrankungen
Als Autoimmunerkrankung bezeichnet man eine überschießende Reaktion des Immunsystems auf körpereigenes Gewebe. Eigene Körperzellen werden als fremd erkannt und von Abwehrzellen attackiert. Ähnlich wie bei anderen Autoimmunerkrankungen (wie z.B. systemischer Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis oder Morbus Basedow) liegt auch der Multiplen Sklerose eine Fehlsteuerung des Immunsystems zugrunde.
Frauen sind von immunvermittelten Erkrankungen signifikant häufiger betroffen als Männer, von MS im Schnitt doppelt so häufig wie Männer. Im Falle der schubförmig remittierenden Verlaufsform der Multiplen Sklerose beträgt das Verhältnis Frauen – Männer sogar 3,5:1.
Fehlsteuerung des Immunsystems
Derzeit gehen Forscher davon aus, dass ein Schlüsselreiz – wie beispielsweise eine Virusinfektion – in Kombination mit der genetischen, hormonellen oder biochemischen Grundausstattung des jeweiligen Patienten die Erkrankung in Gang bringt. Statt Krankheitserreger abzuwehren, greifen Immunzellen (T-Zellen) von MS-Erkrankten fälschlicherweise die Isolierschicht (Myelin) der Nervenzellen an und lösen damit eine Entzündung aus. Der Vorgang der sogenannten „Demyelinisierung“ führt ebenso wie Prozesse im Inneren der Nervenzellen (die zurzeit noch Gegenstand der Forschung sind) zu deren Schädigung, wodurch Nervenimpulse im Gehirn nur mehr langsam oder gar nicht mehr weitergeleitet werden. Neurologische Ausfälle sind die Folge. Derzeit geht man davon aus, dass, sobald die Entzündung nachlässt, die Reparaturvorgänge im Gewebe beginnen (Remyelinisierung). Die wieder aufgebaute Myelinschicht ist dann meist dünner als zuvor, die Funktion der Nervenzellen aber weitgehend wiederhergestellt.
Weibliche Gehirne weisen andere Proteinverteilung auf
Eine mögliche Ursache für die höhere Erkrankungshäufigkeit bei Frauen liegt in einer höheren Anzahl sogenannter „S1PR2-Proteine“ im weiblichen Gehirn. S1PR2 ist bei MS-Erkrankten häufiger als bei Gesunden und bei Frauen häufiger als bei Männern zu finden.
S1PR2 schleust Abwehrzellen ins Gehirn. Im Regelfall dient der Mechanismus dazu, das Gehirn vor Schadstoffen und Krankheitserregern zu schützen. Bei MS-Erkrankten – insbesondere bei Frauen – schleust die hohe Anzahl an S1PR2 entsprechend mehr fehlgesteuerte Immunzellen ins Gehirn.
Schwangerschaft wirkt sich günstig auf Krankheitsverlauf aus
Ein weiterer Faktor für die höhere Erkrankungshäufigkeit von Frauen ist ein Zusammenhang zwischen Immunsystem (T-Helferzellen) und weiblichen Sexualhormonen (Östrogen und Progesteron).
Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sind bei MS-Patientinnen im Vergleich zu gesunden Frauen nicht erhöht. Während einer Schwangerschaft wird das mütterliche Immunsystem unterdrückt, damit das Heranwachsen des Kindes gewährleistet ist und es nicht als „Fremdkörper“ (ein Produkt mütterlicher und väterlicher Gene und damit zur Hälfte mit „fremden“ Merkmalen ausgestattet) abgestoßen wird. Gleichzeitig muss der Körper aber vor drohenden Infektionen geschützt werden.
Bei schwangeren MS-Patientinnen nimmt die Häufigkeit der Schübe vor allem im letzten Drittel der Schwangerschaft um rund 75% ab. Nach der Geburt steigt sie während der ersten drei bis sechs Monate wieder an. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die in der Schwangerschaft erhöhten Östrogen- und Progesteronspiegel. Östrogen begünstigt die Bildung von Abwehrstoffen (TH2), die Entzündungen lindern, wodurch es kaum zu Schüben kommt.
Ein niedriger Östrogenspiegel – so wie bei Nicht-Schwangeren – fördert die Bildung von Eiweißstoffen, die Entzündungen und damit weitere MS-Schübe begünstigen.
Testosteron hat schützende Wirkung auf Nervenzellen
In Studien wurde nachgewiesen, dass an MS erkrankte Männer, die mit Testosteron behandelt wurden, eine geringere Schädigung der Nervenzellen aufweisen. Ob dies auch für Frauen gilt, wird derzeit noch erforscht.
Genetische Unterschiede, Umweltfaktoren und Lebensstil
Als weitere krankheitsbegünstigende Faktoren werden Umweltfaktoren und ein unterschiedlicher Lebensstil diskutiert.
Auch eine genetische Komponente wird vermutet. In Tiermodellen konnte nachgewiesen werden, dass das X-Chromosom eine direkte Rolle bei Autoimmunerkrankungen spielt. Die doppelten X-Chromosome weiblicher Zellen erhöhen daher auch die Anfälligkeit für eine immunvermittelte Gehirn- und Rückenmarkentzündung (autoimmune Enzephalomyelitis).
Große Forschungsdynamik
Gegenwärtig laufen etliche Forschungsprojekte zum Thema Entstehung, Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose. Wie bei einem Mosaik können sich auch kleine Erkenntnisse groß auswirken und Fakten schnell ändern.
Autoren:
Mag. Astrid Leitner
Medizinisches Review:
Dr. Karin Sebek
Redaktionelle Bearbeitung:
Nicole Kolisch
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