Neglect

Von , Arzt
und , Medizinjournalistin
Marian Grosser

Marian Grosser studierte in München Humanmedizin. Daneben hat der vielfach interessierte Arzt einige spannende Abstecher gewagt: ein Philosophie- und Kunstgeschichtestudium, Tätigkeiten beim Radio und schließlich auch für Netdoktor.

Sabine Schrör

Sabine Schrör ist freie Autorin der NetDoktor-Medizinredaktion. Sie studierte Betriebswirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit in Köln. Als freie Redakteurin ist sie seit mehr als 15 Jahren in den verschiedensten Branchen zu Hause. Die Gesundheit gehört zu ihren Lieblingsthemen.

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Ein Neglect tritt nach einem Hirnschaden auf. Die Betroffenen nehmen eine Seite ihres Körpers und ihrer Umgebung nicht mehr richtig wahr, ohne dies selbst zu bemerken. Manchmal bessert sich ein Neglect von selbst, meist ist jedoch eine Behandlung nötig. Lesen Sie hier alles Wichtige über Formen, Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten des Neglects.

neglect

Kurzübersicht

  • Beschreibung:Neurologische Störung infolge eines Hirnschadens. Betroffene nehmen die Körperseite nicht mehr wahr, die dem geschädigten Hirnareal gegenüber liegt.
  • Behandlung: Manchmal verschwindet Neglect von selbst, gezieltes Training der betroffenen Körperseite, Hinweisreize auf der betroffenen Seite (z. B. farbige Linien), Training von Augen- und Kopfbewegungen, Selbstinstruktionstechnik, technische Hilfsmittel oder Brillen mit Prismengläsern
  • Ursachen:Meist Schlaganfall, selten Tumoren oder Demenzerkankungen wie Alzheimer
  • Wann zum Arzt?Immer sofort den Notarzt rufen, wenn zusätzliche Schlaganfall-Symptome auftreten, zum Beispiel einseitige Lähmungserscheinungen, verwaschene Sprache, Missempfindungen, Verlust des Gefühls in bestimmten Körperregionen. Bei Neglect als einzigem Symptom ebenfalls den Arzt aufsuchen
  • Diagnose:Diagnose anhand des für Neglect typischen Verhaltens. Zusätzlich Tests wie Linienhalbierungsverfahren, Such- und Durchstreichaufgaben, Lesetests und Zeichenübungen

Was ist ein Neglect?

Ein Neglect (auch Neglect-Syndrom oder englisch "neglect syndrome") ist eine durch einen Hirnschaden ausgelöste neurologische Störung. Meist ist ein Neglect die Folge eines Schlaganfalls.

Der Begriff geht auf das lateinische Wort "neglegere" zurück, das "nicht wissen" oder "vernachlässigen" bedeutet. Denn die Betroffenen nehmen per Definition eine Seite ihres Körpers und ihrer Umgebung nicht mehr wahr bzw. "vernachlässigen" sie. Dabei handelt es sich immer um die Seite, die der geschädigten Hirnhälfte gegenüberliegt. Da die rechte Hirnhälfte deutlich häufiger von einem Hirnschaden betroffen ist als die linke, tritt ein Neglect meist an der linken Körperseite auf.

Was passiert beim Neglect?

Bei Neglect-Patienten sind die Sinnesorgane wie Augen, Ohren und Haut sowie die Nervenbahnen der betroffenen Körperseite vollkommen intakt. Sie funktionieren normal und senden ihre Signale ans Gehirn. Dort liegt das Problem: Das Gehirn ist nicht in der Lage, die Signale der Sinnesorgane zu bewussten Eindrücken zu verarbeiten – man spricht von einer gestörten sekundären Wahrnehmung.

Diese bewirkt, dass die Patienten die betroffene Körperseite vernachlässigen. Sie sehen, hören und fühlen dort nichts. Manchmal reagieren sie selbst bei Schmerzen auf dieser Seite nicht oder nur verzögert.

Meist bemerken die Betroffenen einen Neglect nicht einmal, da sie die entsprechende Körperhälfte vollständig ausgeblendet haben. Es ist ihnen zwar möglich, die Aufmerksamkeit gezielt auf die betroffene Körperhälfte zu richten. Dann rückt diese auch wieder ins Bewusstsein. Dazu müssen die Patienten jedoch aufgefordert werden, von selbst geschieht es nicht.

Neglect: Formen und typische Symptome

Bei einem akuten Neglect drehen die Betroffenen Augen und Kopf meist in Richtung der geschädigten Gehirnhälfte. Typisch für einen Neglect ist auch, dass die Patienten eine Körperseite wesentlich stärker nutzen als die andere.

Ein Neglect betrifft in der Regel einzelne, manchmal aber auch alle Sinnesorgane und Regionen einer Körperseite. Je nachdem, welche Bereiche betroffen sind, unterscheidet man verschiedene Formen des Neglects:

  • Visueller Neglect: Die Betroffenen sehen nichts mehr mit dem Auge der beeinträchtigen Körperhälfte. Ihr Gesichtsfeld beschränkt sich auf den Ausschnitt der gesunden Körperseite.  
  • Auditorischer oder akustischer Neglect: Die Patienten hören auf der Neglect-Seite nichts und reagieren deshalb nicht, wenn man sie aus dieser Richtung anspricht. Ausserdem haben sie Schwierigkeiten zuzuordnen, woher Geräusche kommen.
  • Somatosensibler Neglect: Betroffene reagieren nicht oder verspätet auf Berührungen oder Schmerzen an der vom Neglect betroffenen Körperseite. Die Berührung oder den Schmerz verorten sie oft auf der nicht betroffenen Seite.
  • Motorischer Neglect: Die Patienten nutzen die willentlich steuerbaren Muskeln auf der betroffenen Seite kaum oder gar nicht. Unbewusste Bewegungen wie Blinzeln oder Kauen funktionieren aber meist.
  • Olfaktorischer Neglect: Dabei nehmen die Patienten keine Gerüche in der Umgebung der betroffenen Körperseite wahr.

Neglect-Patienten haben meist ein eingeschränktes Gesichtsfeld. Deshalb nehmen sie ihre Umwelt nur zur Hälfte wahr. Das äussert sich zum Beispiel beim Essen, wenn eine Seite des Tellers nicht geleert wird. Oft stossen die Betroffenen auch immer wieder mit Arm oder Bein der betroffenen Körperseite an. Viele schminken oder rasieren ausserdem nur eine Gesichtshälfte.

Ein Neglect beeinflusst auch die visuelle Erinnerung: Wenn Betroffene zum Beispiel bekannte Orte, Menschen oder Gegenstände beschreiben oder zeichnen, malen sie nur eine Hälfte. Und zwar auch dann, wenn sie das jeweilige Motiv bereits kannten, bevor der Neglect auftrat. Man bezeichnet dies als repräsentationalen Neglect.

Neglect: Behandlung

Nach einem Schlaganfall verschwinden die Neglect-Symptome manchmal nach einigen Wochen von selbst. Bleibt ein Neglect bestehen, gibt es spezielle Therapieverfahren, um die Symptome zu lindern:

  • Gezieltes Trainieren der betroffenen Körperseite im Hinblick auf Alltagsaktivitäten wie essen, anziehen oder kämmen
  • Hinweisreize auf der betroffenen Seite wie eine farbige Linie am vernachlässigten Tischrand
  • Systematisches Training von Augen- und Kopfbewegungen auf der vernachlässigten Seite
  • Selbstinstruktionstechnik: Dabei gibt sich der Betroffene selbst den "Befehl", die vernachlässigte Seite zu berücksichtigen (z. B. "Beim Schreiben zuerst den linken Zeilenrand suchen").
  • Technische Hilfsmittel: Die Betroffenen tragen ein kleines Gerät in der Tasche auf der vernachlässigten Körperseite. Das Gerät sendet in unregelmässigen Abständen einen Ton, den die Betroffenen mit der vernachlässigten Hand abstellen.
  • Spezieller Vibrator: Damit wird die Nackenmuskulatur auf der vernachlässigten Körperseite stimuliert. Experimente haben gezeigt, dass sich die Neglect-Symptome so manchmal reduzieren lassen.
  • Spezielle Brillengläser (Prismengläser): Die Patienten tragen die Prismengläser während verschiedener Übungen. Diese Methode ist zwar noch in der Probephase, hat in ersten Studien aber gute Ergebnisse geliefert.

Das können Sie selbst tun

Nach einem Schlaganfall empfiehlt es sich für Betroffene, so früh wie möglich damit anzufangen, die geschädigten Hirnareale zu mobilisieren. Das unterstützt eine optimale Regeneration. Allerdings besteht die Gefahr, dass man selbst vorhandene Neglect-Störungen gar nicht wahrnimmt – und damit auch den Handlungsbedarf nicht erkennt.

Tipps für Angehörige

Oft ist es hilfreich, wenn Verwandte und Freunde den Heilungsprozess unterstützen. Grundsätzlich hilft es, die vernachlässigte Seite gezielt zu fördern und zu stimulieren. Zum Beispiel, indem man den Betroffenen Gegenstände absichtlich an die Neglect-Seite reicht oder am Tisch Gläser und Tassen zur vernachlässigten Hälfte hin verschiebt. Wenn der Arm des Patienten im Sitzen herabhängt, bitten Angehörige beispielsweise darum, dass der Betroffene diesen Arm auf die Stuhllehne oder den Tisch legt. Gegebenenfalls ist es nötig, ihm dabei zu helfen.

Möglich ist es auch, das Bett des Betroffenen so aufzustellen, dass er mit seiner gesunden Körperseite zur Wand liegt – beim Aufstehen dreht er sich dann automatisch auf die vernachlässigte Seite. Diese Methode ist allerdings umstritten, da sie den Neglect-Patienten unter Umständen sehr beunruhigt.

Angehörige brauchen oft viel Geduld mit den Betroffenen, denn durch das Neglect-Syndrom ist deren Aufmerksamkeit gestört. Deshalb ist es hilfreich, deutlich und langsam zu sprechen und zwischen Übungen immer wieder Pausen einzulegen. Ausserdem erscheinen die Erkrankten manchmal emotional verändert. Wenn sie also plötzlich Probleme haben, ihre Gefühle richtig auszudrücken, liegt auch das oft am Neglect.

Welche Heilungschancen gibt es?

Bei den meisten Betroffenen bildet sich ein Neglect binnen einiger Wochen bis Monate wieder zurück. Gegebenenfalls bleibt aber ein Rest der Symptomatik zurück. Vor allem dann, wenn auf beiden Körperseiten gleichzeitig Reize auftreten, bleibt eine Seite oft vernachlässigt. Daher ist es ratsam, dass Betroffene auf Tätigkeiten wie Autofahren verzichten – auch dann, wenn sie ihre Wahrnehmung selbst als vollständig einschätzen.

Neglect: Ursachen und Risikofaktoren

Die Hirnschäden, die zu einem Neglect-Syndrom führen, beruhen meist auf einem Schlaganfall. Dieser entsteht entweder durch eine Durchblutungsstörung (ischämischer Schlaganfall) oder aber Einblutung (hämorrhagischer Schlaganfall oder Hirnblutung) in bestimmten Hirnarealen. Seltener sind Gehirntumoren und Demenzerkrankungen wie Alzheimer für einen Neglect verantwortlich.

Ein Neglect tritt vor allem dann auf, wenn die rechte Hirnhälfte geschädigt wurde. Deshalb vermuten Neurologen, dass diese Hälfte des Gehirns wichtiger ist für die Verarbeitung von Sinnesreizen als die linke. Dafür spricht auch, dass die rechte Hirnhälfte einen Ausfall der linken oft teilweise auszugleichen vermag, während dies umgekehrt nicht möglich ist.

Neglect: Wann zum Arzt?

Hat ein Schlaganfall den Neglect verursacht, leiden die Betroffenen meist unter weiteren typischen Symptomen. Dazu gehören etwa plötzlich auftretende einseitige Lähmungen, Missempfindungen, sie verlieren das Gefühl in den betroffenen Körperregionen und zeigen eine verwaschene Sprache.

Wenn Sie diese Anzeichen bei sich oder bei Menschen in Ihrer Umgebung bemerken, rufen Sie sofort den Notarzt! Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute.

Ist ein Neglect das einzige Symptom, bleibt die Störung oft länger unbemerkt. Denn den Betroffenen sind ihre Defizite nicht bewusst, und auch das Umfeld bemerkt die Anzeichen nicht immer sofort.

Wenn Ihnen auffällt, dass jemand eine Körperseite plötzlich nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht benutzt, oft an Gegenstände stösst und offenbar Eindrücke auf einer Körperseite nicht mehr wahrnimmt, fragen Sie nach, ob der Betroffene dies selbst bemerkt. Ist das nicht der Fall, ist ein akuter Neglect wahrscheinlich und ein schnellstmöglicher Besuch beim Neurologen oder im Krankenhaus wichtig.

Neglect: Untersuchungen und Diagnose

Zunächst untersucht der Arzt, ob der Patient tatsächlich an einem Neglect leidet. Dafür gibt es spezielle Testverfahren, von denen meist mehrere durchgeführt werden. Denn erst die Gesamtheit der Testergebnisse erlaubt eine sichere Diagnose. Schwere Neglect-Formen erkennt ein erfahrener Arzt jedoch meist schon am Verhalten des Patienten. Dann erübrigen sich aufwendige Testverfahren.

Spezielle Tests

Es gibt verschiedene Methoden, um einen Neglect festzustellen. Dazu gehören zum Beispiel:

  • Linienhalbierungsaufgaben:Die Patienten werden aufgefordert, horizontale Linien auf einem Blatt Papier mit dem Stift exakt in der Mitte zu teilen. Bei einem Neglect-Syndrom ist die Halbierung zur gesunden Seite hin verschoben.
  • Such- und Durchstreichaufgaben: Die Patienten erhalten ein Blatt Papier mit verschiedenen, gleichmässig verteilten Symbolen. Die Aufgabe ist es, alle gleichen Symbole zu markieren. Liegt ein Neglect vor, markiert der Patient auf einer Seite wesentlich mehr Symbole als auf der anderen.
  • Lesetests und Zeichenübungen: Beim Vorlesen lassen Neglect-Betroffene häufig Wörter am Zeilenanfang aus. Auch beim Zeichnen zeigt sich die gestörte Wahrnehmung einer Körperseite. So malen die Betroffenen zwar beim Zeichnen einer Uhr ein rundes Zifferblatt. Doch sämtliche Stunden werden in nur eine Hälfte eingezeichnet.

Autoren- & Quelleninformationen

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Wissenschaftliche Standards:

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

Vorlage:
Dr. med. Katharina Larisch
Autoren:
Marian Grosser
Marian Grosser

Marian Grosser studierte in München Humanmedizin. Daneben hat der vielfach interessierte Arzt einige spannende Abstecher gewagt: ein Philosophie- und Kunstgeschichtestudium, Tätigkeiten beim Radio und schließlich auch für Netdoktor.

Sabine Schrör
Sabine Schrör

Sabine Schrör ist freie Autorin der NetDoktor-Medizinredaktion. Sie studierte Betriebswirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit in Köln. Als freie Redakteurin ist sie seit mehr als 15 Jahren in den verschiedensten Branchen zu Hause. Die Gesundheit gehört zu ihren Lieblingsthemen.

Quellen:
  • Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Rehabilitation bei Störungen der Raumkognition, Stand: September 2017, unter: www.register.sawmf.org (Abrufdatum: 10.06.2022)
  • Masuhr, K. et al.: Duale Reihe Neurologie. Georg Thieme Verlag, 7. Auflage, 2013
  • Pschyrembel Online: Neglect, unter: www.pschyrembel.de (Abruf: 10.06.2022)
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