Lotusgeburt

Von , Biologin
Dr. Nicole Wendler

Nicole Wendler ist promovierte Biologin aus dem Bereich Onkologie und Immunologie. Als Medizinredakteurin, Autorin und Lektorin ist sie für verschiedene Verlage tätig, für die sie komplizierte und umfangreiche medizinische Sachverhalte einfach, prägnant und logisch darstellt.

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Die Lotusgeburt ist ein Geburtsritual, das vor allem in esoterischen Kreisen bekannt ist. Dabei wird die Nabelschnur nach der Geburt nicht durchtrennt, sondern bleibt zusammen mit dem Mutterkuchen mit dem Kind verbunden - so lange, bis Nabelschnur und Mutterkuchen gemeinsam abfallen. Lesen Sie hier, wie eine Lotusgeburt genau abläuft und ob sie medizinisch sinnvoll ist.

Lotusgeburt

Lotusgeburt: Was ist das?

Viele denken bei dem Begriff Lotusgeburt fälschlicherweise an eine besondere Form der Geburtsstellung. Es handelt sich dabei aber um eine Entbindung ohne Abnabelung: Die Nabelschnur wird nach der Geburt nicht abgeklemmt und durchschnitten, sondern wird zusammen mit der Plazenta belassen, bis sie natürlicherweise abfällt. Diesen Vorgang beobachtete die Primatologin Jane Goodall 1964 bei Schimpansen.

Offenbar praktizieren auch einige Naturvölker dieses Ritual. Zurück geht der Name Lotusgeburt auf die Amerikanerin Claire Lotus Bay. Sie liess ihr Neugeborenes in den 1970er Jahren - als offenbar erste Frau in der westlichen Welt - nicht auf die klassische Weise abnabeln. In den Folgejahren wurde die Lotusgeburt dann vor allem in esoterischen Kreisen beliebt.

Was passiert bei der Lotusgeburt?

Bei der Lotusgeburt wird die Nabelschnur nicht wie üblicherweise durchschnitten, sobald das Kind entbunden ist. Stattdessen belässt man sie zusammen mit der Plazenta am Kind. In den ersten Minuten nach der Geburt wird das Neugeborene tiefer als die Plazenta gehalten, um den Blutfluss zum Kind zu unterstützen. Dann wäscht die Hebamme den Mutterkuchen und wickelt ihn in ein sauberes Tuch.

Plazenta bleibt bis zu zehn Tage mit Kind verbunden

Ab dem ersten Tag nach der Geburt wird die Plazenta täglich mit einer Mischung aus Salz, Kräutern und ätherischen Ölen eingerieben. Diese Form der Konservierung soll den Trocknungsprozess beschleunigen und einer Geruchsbildung beziehungsweise dem bakteriellen Fäulnisvorgang entgegenwirken. Für bis zu zehn Tage hängt die Plazenta nun an der langsam vertrocknenden Nabelschnur (und damit am Kind) und muss bei jeder Bewegung des Kindes vorsichtig mittransportiert werden.

Es gibt sogar Nähanleitungen und Kaufangebote für Plazentataschen im Internet, die das Herumtragen des Mutterkuchens mit dem Kind erleichtern sollen. Sobald die Nabelschnur mit der Plazenta natürlicherweise abgefallen ist, werden sie von Anhängern der Lotusgeburt oftmals im Garten vergraben.

Eine Hausgeburt oder ein Geburtshaus ist für Frauen, die sich eine Lotusgeburt wünschen, der geeignete Ort. Wichtig ist, dass Sie von einer erfahrenen Hebamme unterstützt werden. In den meisten Klinken ist eine Lotusgeburt aufgrund des Infektionsschutzes nicht möglich.

Lotusgeburt: Gibt es gesundheitliche Risiken?

Nach Ansicht der Befürworter birgt die Lotusgeburt für Mutter und Kind keine gesundheitlichen Risiken. Folgendes sollten schwangere Frauen, die dieses Ritual in Erwägung ziehen, aber wissen:

  • Bei jeder Bewegung des Kindes (Wickeln, Stillen, Waschen etc.) ist ein Ziehen am Nabel unbedingt zu vermeiden (Verletzungsgefahr!).
  • Durch die langsam verfaulende Plazenta besteht Infektionsgefahr. Bei Anzeichen einer Infektion beim Kind müssen Sie sofort zum Arzt!
  • Bei der Lotusgeburt ist keine Stammzellentnahme aus der Nabelschnur möglich.
  • Nach dem Auspulsieren der Nabelschnur findet kein Nährstoffaustausch mehr statt: Das Baby muss nach der Lotusgeburt ganz normal gestillt und gefüttert werden.

Lotusgeburt: Gibt es Vorteile?

Verfechter der Lotusgeburt sagen, dass das natürliche Abfallen der Nabelschnur weniger traumatisch sei als das übliche Durchschneiden. Zudem fördere es die tiefe Bindung zwischen Mutter und Kind und erleichtere dem Kind den Eintritt ins Leben. Nach Aussage mancher Frauen, die sich für eine Lotusgeburt entschieden hatten, sind die Kinder entspannter und ruhiger.

Gerne angebrachte medizinische Argumente für eine Lotusgeburt sind:

  • weniger Blutverlust
  • bessere Eisen- und Sauerstoffversorgung
  • kein Nährstoffverlust
  • Stärkung des Immunsystems
  • leichtere Gewichtszunahme
  • geringeres Gelbsuchtrisiko
  • höherer IQ
  • bessere Feinmotorik

Wissenschaftlich belegt ist aber keiner dieser propagierten Vorteile.

Lotusgeburt vs. frühes Abnabeln: Was sagt die Wissenschaft?

Nach dem Auspulsieren der Nabelschnur endet der Blut- und Nährstoffaustausch zwischen Plazenta und Kind. Die gerne genannten medizinischen Vorteile der Lotusgeburt betreffen also nur die ersten Minuten nach der Geburt und sind ausschliesslich Argumente für ein spätes Abnabeln und nicht für das tagelange Verbundensein des Kindes mit dem langsam vertrocknenden Mutterkuchen.

Lotusgeburt wirkt wohl wie Bluttransfusion

Anders als zur Lotusgeburt existieren zum späten Abnabeln von Neugeborenen aktuelle Studien. Hier weisen die Ergebnisse tatsächlich darauf hin, dass sich spätes Abklemmen der Nabelschnur positiv auf die Gesundheit des Kindes auswirkt. Untersuchungen zeigen, dass das im Mutterkuchen enthaltene Blut wie eine sogenannte autologe Bluttransfusion funktioniert: Es steigert die Menge an roten Blutkörperchen beim Kind und schont die Eisenspeicher. Durch dieses natürliche Blutreservoir ist das Blutvolumen bei spät abgenabelten Neugeborenen um etwa ein Drittel höher als bei sofort abgenabelten Kindern.

Auf den IQ von Kindern im Vorschulalter hatte das späte Abnabeln Untersuchungen zufolge dagegen keinen Einfluss. Geringfügig bessere Ergebnisse ergaben sich aber offenbar beim Sozialverhalten und der Feinmotorik. Ob dies tatsächlich auf die bessere Eisenversorgung kurz nach der Geburt zurückzuführen ist, bleibt jedoch noch zu prüfen.

Mit dem Durchschneiden der Nabelschnur etwas länger zu warten, erscheint also sinnvoll und ist vor allem bei Müttern mit Blutarmut oder in Entwicklungsländern, wo fetale Anämien (Blutarmut beim Fötus) häufiger vorkommen, durchaus ratsam. Bei Frühchen senkt spätes Abnabeln zudem die Hirnblutungsrate um bis zu 50 Prozent.

Laut aktuellen Empfehlungen sollte ein Neugeborenes frühestens nach einer bis drei Minuten abgenabelt werden. Die Experten verweisen aber auch auf die mögliche Alternative, das Auspulsieren der Nabelschur abzuwarten.

Lotusgeburt – Sinn oder Unsinn?

Was mit der Plazenta nach der Geburt passieren soll, bleibt jeder Mutter selbst überlassen. Aus medizinischer Sicht scheinen die gesundheitlichen Risiken einer Lotusgeburt gering. Es existieren allerdings auch keinerlei wissenschaftliche Studien, die den von Befürwortern angebrachten positiven Effekt der Lotusgeburt belegen. Eine langsam vertrocknende, gepökelte Plazenta über eine Woche mit sich und dem Kind herumzutragen, entbehrt bislang jeder medizinischen Grundlage.

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Wissenschaftliche Standards:

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

Autor:
Dr. Nicole Wendler
Dr.  Nicole Wendler

Nicole Wendler ist promovierte Biologin aus dem Bereich Onkologie und Immunologie. Als Medizinredakteurin, Autorin und Lektorin ist sie für verschiedene Verlage tätig, für die sie komplizierte und umfangreiche medizinische Sachverhalte einfach, prägnant und logisch darstellt.

Quellen:
  • Andersson, O.: Effect of delayed cord clamping on neurodevelopment at 4 years of age: a randomized clinical trial. JAMA Pediatr (2015), 169(7):631-638
  • Andersson, O. et al.: Effect of delayed versus early umbilical cord clamping on neonatal outcomes and iron status at 4 months: a randomised controlled trial, BMJ 2011; 343
  • Berger, R. et al.: Neuroprotektion bei Frühgeborenen. Der Gynäkologe (2014), 11:856-864
  • Dal Pian, D.: Lotus-Geburt. FHA - Frauenheilkunde Aktuell (2007), 2:35-36
  • Galván J. A.: They Do What? A Cultural Encyclopedia of Extraordinary and Exotic Customs from around the World, ABC-CLIO, 2014
  • Peterson, D.: Jane Goodall: The Woman Who Redefined Man, Houghton Mifflin Harcour, 2006
  • S2k-Leitlinie der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI): „Betreuung von gesunden reifen Neugeborenen in der Geburtsklinik“ (Stand 2012)
  • van Rheenen P. & Brabin, B.J.: Late umbilical cord-clamping as an intervention for reducing iron deficiency anaemia in term infants in developing and industrialised countries: a systematic review. Ann Trop Paediatr (2004), 24(1):3-16
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