Nervenzellen illustriert

Wo der Tic im Kopf entsteht

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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Wie komplex das Gehirn arbeitet, merkt man erst, wenn es irgendwo hakt. Bei Menschen mit Tic-Störungen äussert sich das in motorischen Ticks wie Grimassieren, starkes Kopfrucken oder Springen sowie vokalen Ticks wie Räuspern, Pfeifen oder Bellen. Die Betroffenen können diese Symptome nur schwer oder gar nicht unterdrücken.

Netzwerk im Gehirn

Forschende haben nun ein neuronales Netzwerk im Gehirn ausgemacht, in dem die Tics ihren Ursprung haben. Das eröffnet Menschen mit schwer ausgeprägten Symptomen eine Perspektive auf Linderung: Reizt man dieses Netzwerks durch eine tiefe Hirnstimulation über einen Hirnschrittmacher, bessern sich die Symptome.

„In den vergangenen Jahren hat die neurologische Forschung verschiedene Bereiche des Gehirns identifiziert, die für Tics eine Rolle spielen“, sagt der Letztautor der Studie, Dr. Andreas Horn, Leiter einer Emmy Noether-Nachwuchsgruppe zu netzwerkbasierter Hirnstimulation am Charité Campus Mitte, dem Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School in Boston. „Unklar blieb jedoch: Welche dieser Hirnareale lösen die Tics aus? Welche sind stattdessen aktiv, um fehlerhafte Prozesse zu kompensieren?“

Für die Studie untersuchte das Forschungsteam 22 Patientinnen und Patienten, deren Tics erst aufgrund einer Hirnschädigung, beispielsweise durch einen Unfall, auftraten.

Auf dieser Basis entwickelten die Forschenden eine Art Karte, die alle geschädigten Hirnbereiche umfasste. Zudem ermittelten sie, mit welchen weiteren Arealen diese normalerweise über Nervenfasern verbunden wären. Das Ergebnis: Obwohl die Schäden in unterschiedlichen Teilen des Hirns entstanden waren, waren sie nahezu alle Teil eines gemeinsamen Nervengeflechts.

Tic-Netzwerk zieht sich über das gesamte Hirn

„Diese Strukturen sind praktisch über das gesamte Gehirn verteilt und haben unterschiedlichste Funktionen“, berichtet Bassam Al-Fatly, Forscher an der Berliner Charité und einer der Erstautoren der Studie. Sie reichen von der Steuerung der Motorik bis zur Verarbeitung von Emotionen. „Sie alle wurden in der Vergangenheit bereits als mögliche Auslöser für Tics diskutiert“, so der Wissenschaftler. „Jetzt wissen wir, dass diese Hirnbereiche ein Netzwerk bilden und tatsächlich die Ursache für Tic-Störungen sein können.“

Hirnschädigungen als Ursache von Tics sind sehr selten. Normalerweise spielen insbesondere genetische Faktoren dabei eine Rolle. Auch Infektionen, beispielsweise mit Streptokokken, werden als Auslöser gehandelt.

Tiefe Hirnstimulation lindert die Symptome

Dennoch scheint das jetzt identifizierte Nervennetzwerk auch für die Behandlung „klassischer“ Tics relevant zu sein. Das zeigten Untersuchungen mit 30 Patientinnen und Patienten mit Tourette-Syndrom – der wohl bekanntesten und auch auffälligsten Tic-Störung. Ihnen allen war zur Linderung der Symptome ein Hirnschrittmacher implantiert worden.

Anhand von Hirnscans konnten die Forschenden nachvollziehen, wo genau die Elektroden jeweils sassen. Dabei zeigte sich, dass die Symptome der Betroffenen am stärksten zurückgingen, je präziser die Elektroden das entdeckte Tic-Netzwerk stimulierten.

Künftig sollen die Hirnschrittmacher möglichst präzise auf das Netzwerk abzielen. „Wir hoffen, dass wir so den wirklich hohen Leidensdruck für die Betroffenen noch besser abmildern können, um ihnen ein weitestgehend selbstbestimmtes und sozial erfülltes Leben zu ermöglichen“, so der Erstautor der Studie, Privatdozent Dr. Christos Ganos von der Berliner Charité.

Häufig treten Tics erstmals in der Kindheit auf und bilden sich mit zunehmendem Heranwachsen nach und nach zurück – aber nicht immer.

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Quellen:
  • Christos Ganos et al.: A neural network for tics: insights from causal brain lesions and deep brain stimulation, Brain, 13. Jan 2022, awac009, https://doi.org/10.1093/brain/awac009
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