Wenn Tanzen krank macht

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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Ballett, Jazztanz, Modern Dance: Wenn Jugendliche auf hohem Niveau tanzen, ist das Risiko für bleibende körperliche Schäden hoch. Denn das Aushalten von Schmerzen ist Teil des Mythos.

So mühelos das Tanzen auch scheinen mag: Tatsächlich sind Ballett & Co. knallharter Hochleistungssport. Das spiegelt sich auch in der Verletzungsbilanz wider.

Zu diesem Schluss kam Tanzwissenschaftlerin Judith-Elisa Kaufmann, als sie Studien zu muskuloskelettalen Verletzungen von Kindern und Jugendlichen im Tanz auswertete. Dazu berücksichtigte sie umfangreiche Daten zum einen aus dem Bühnentanz, wie zum Beispiel Ballett, Jazztanz, Stepptanz. Zum anderen aus dem Tanzsport wie Standard oder Latein. Zu den Teilnehmenden gehörten sowohl Freizeit- als auch Profitänzer.

Hohes Verletzungsrisiko im Ballett

Das Ergebnis: Bei Kindern und Jugendlichen zwischen 9 und 18 Jahren kommen bis zu 4,71 Verletzungen auf tausend Trainingsstunden. Eine solche Stundenzahl kommt bei höherer Trainingsintensität innerhalb eines Jahres schnell zusammen.

Besonders gross scheint das Risiko im Ballett zu sein. Hier verletzten sich 76 Prozent der Tänzerinnen und Tänzer innerhalb eines Jahres.

Aber auch im Freizeittanz ist die Verletzungsrate hoch: Von 1336 Kindern und Jugendlichen im Alter von 8 bis 16 Jahren, die Ballett, Jazz und Modern Dance trainierten, fanden die Ärztinnen und Ärzte bei 42,6 Prozent Verletzungen.

Überlastete Körper

Bei den Acht- bis Zehnjährigen waren es vor allem Überlastungsverletzungen der Sehnen (Tendopathien) des hinteren Sprunggelenks, Gelenkverletzungen, Entzündungen, Schmerzen im unteren Rückenbereich und Verletzungen der Wirbelsäule.

Bei Jugendlichen ab 14 Jahren sind Knie und Wirbelsäule stärker betroffen. Auch hier dominieren chronische Verletzungen und Überlastungen mit einem Anteil von 60 bis 90 Prozent an den Verletzungen.

Das heisst: Anders als in anderen Sportarten, in denen Schäden an Sehnen und Bändern, Prellungen und Muskelverletzungen dominieren, entstehen die Schäden beim Tanzen nicht durch Unfälle, sondern durch das Training selbst - oder sie verschlimmern sich, weil weiter trainiert wird.

Mehr Schmerz, mehr Ruhm

„Das müsste nicht sein, wenn es nicht das alte Klischee gäbe, dass man sich durch die Verletzung durchkämpfen muss“, so Kaufmann auf dem 38. Jahreskongress der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS) in Luxemburg. In der Tanzwelt gebe es immer noch so etwas wie eine Athletenidentität: „Schmerzen und Verletzungen gehören dazu. Je mehr man trotz Verletzung und Überlastung leistet, desto höher ist das Ansehen.“

Schmerz sei in der Tanzwelt über die Jahrzehnte zu einem Symbol für Disziplin und Hingabe geworden. Eine Änderung sei nicht in Sicht: „Tänzer lernen schon als Kinder, trotz Verletzung weiterzumachen“, sagt sie.

Auch im Freizeitsport habe sich diese Mentalität vielerorts etabliert: weitermachen, Zähne zusammenbeissen. Schmerz als Beweis für Hingabe und Leistungsbereitschaft.

Ignorierte Warnsignale

Dass akute Schmerzen ein Warnsignal des Körpers sind, wird oft konsequent ausgeblendet. Die Intuition, Dinge zu unterlassen, die weh tun, ignorieren die Tänzer und Tänzerinnen. Wer versucht, Verletzungen vorzubeugen oder sich die Zeit nimmt, sie auszukurieren, muss mit negativen Konsequenzen rechnen: Er oder sie wird schnell schief angesehen, abgewertet oder muss sogar mit einem Rauswurf rechnen.

„Das macht etwas mit den Gehirnen der Tänzer. Es erzieht zu einem falschen Umgang mit Schmerz, zu einer falschen, kontraintuitiven Schmerzwahrnehmung und damit zu einer gefährlichen Interpretation von tänzerischer Disziplin und Zielsetzung“, warnt Kaufmann. Viele professionelle Tänzer trauten sich nicht einmal, anonym an Schmerz- und Verletzungsstudien teilzunehmen, aus Angst, ihre Antworten könnten von Arbeitgebern und Lehrern eingesehen werden.

Die Folgen sind nicht selten das Ende der Tanzkarriere – und bleibende körperliche Schäden durch Verletzungen und Verschleiss.

Umdenken gefordert

Die Forscher fordern, dass dieses Denken, das bei Trainern und Lehrern, aber auch bei den Tänzern selbst und in der Gesellschaft verankert ist, aufgebrochen wird. Es geht nicht nur darum, Verletzungen vorzubeugen, sondern auch darum, das Wohlbefinden und letztlich die Leistungsfähigkeit der Tanzenden zu steigern - so, wie es in anderen Leistungssportarten längst üblich ist.

„Nur durch eine evidenzbasierte, gezielte Trainingsplanung kann die richtige Art der Leistungssteigerung und eine umfassende Verletzungsprophylaxe etabliert werden“, sagt Kaufmann.

Eine weitere körperliche und psychische Belastung ist die strenge Gewichtskontrolle, die gerade bei Tänzern weit verbreitet ist. Dabei ist eine ausgewogene Ernährung für die Fitness und Kraft, die das Tanzen den jungen Menschen abverlangt, notwendig. Es gehe nicht darum, schlank und hübsch zu sein, sagt Kaufmann.

Auch psychische Schäden bleiben

Der psychische Druck wirkt auch nach Jahrzehnten noch nach. Viele ehemalige Tänzerinnen und Tänzer achten ihr Leben lang übermässig auf Gewicht und Aussehen, vergleichen sich streng mit anderen. Anpassung und Leistung bleiben für sie notwendige Voraussetzungen, um Anerkennung und Liebe zu bekommen - auch lange nach dem Karriereende und um es anderen recht zu machen.

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Quellen:
  • Tanzsport: Schmerz als Symbol für Disziplin und Hingabe?, Pressemitteilung der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS), 17. Mai 2023
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