Nicht alle Magersüchtigen sind zu dünn
Nicht alle Magersüchtigen sind erschreckend dünn. Bei einer atypischen Anorexia können auch Mollige in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten. Und das ist gar nicht so selten.
Anorexia nervosa ist eine psychische Erkrankung, die mit schweren körperlichen Komplikationen einhergehen kann. Einer von zehn Betroffenen stirbt. Trifft man Patienten, die nur noch Haut und Knochen sind, leuchtet die Bedrohlichkeit der Lage jedem ein.
Magersüchtig und doch zu dick
Doch es gibt auch Magersüchtige, die (noch) normal- oder sogar übergewichtig sind. Man bezeichnet diese Form der Magersucht als atypische Anorexie. Doch auch für sie sind ein restriktives Essverhalten, Gewichtsverlust und die starke Angst vor Gewichtszunahme kennzeichnend.
Oft sind diese Patientinnen zunächst übergewichtig. Nehme sie ab, werden sie von ihrer Umwelt darin bestärkt. Sie erhalten Komplimente für ihr gutes Aussehen und freuen sich, trendigere Kleidung tragen zu können. So ermutigt, nehmen sie weiter rapide ab.
Körper im Hungermodus
Patientinnen mit atypischer Anorexie verlieren oft rasch bis zu einem Viertel ihres ursprünglichen Körpergewichtes. Doch schon wenn zehn Prozent der Körpermasse zu schnell verloren gehen, schaltet der Körper in den Hungermodus. Der Pulsschlag verlangsamt sich stark, der Blutdruck sinkt. Auch der Elektrolythaushalt entgleist. Im Extremfall können lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen auftreten.
Der einzige Weg, aus dem gefährlichen Hungermodus herauszukommen, ist wieder Gewicht zuzulegen. Doch das ist Patienten und Angehörigen bei atypischer Anorexie schwerer zu vermitteln. „Die Menschen verstehen, dass extrem dünne Menschen zunehmen müssen“, sagt Melissa Whitelaw vom Royal Children’s Hospital in Melbourne. Bei Normal- und Übergewichtigen ist das schwerer nachvollziehbar.
Jeder dritte Patient ist nicht zu dünn
Gemeinsam mit Kollegen hat die Ernährungswissenschaftlerin 171 Patientinnen zwischen 12 und 19 Jahren untersucht, die wegen Magersucht in ihrer Klinik behandelt wurden. Dabei fanden sie heraus, dass eine atypische Magersucht keine Seltenheit ist: Jede dritte der behandelten Anorektiker war normal- oder übergewichtig.
„Wir sehen jetzt, dass man ein ganz normales Körpergewicht haben kann, und trotzdem genauso schwer krank sein wie jemand, der unter typischer Anorexie leidet“, so Whitelaw. Das Problem ist, dass diese Patientengruppe weniger ernst genommen würde. Selbst schwer erkrankte Betroffene laufen Gefahr, übersehen zu werden und keine Hilfe zu bekommen.
Magersucht neu definieren
Die Forscherin fordert, die derzeitigen Standards zur Definition der Erkrankung anzupassen und das Kriterium Untergewicht daraus zu streichen. Seit immer mehr Menschen übergewichtig oder fettleibig seien, veränderten auch Essstörungen ihr Gesicht. Der Anteil der normal- und übergewichtigen Magersüchtigen könnte noch erheblich steigen.
Familien, Lehrer, Sporttrainer sollten alarmiert sein, wenn junge Menschen ein besorgniserregendes Essverhalten zeigten und deutlich abnehmen – auch, wenn sie nicht untergewichtig sind. Gerade für junge Menschen, die abnehmen möchten, ist ausserdem eine professionelle Beratung zu einem gesunden Gewichtsverlust sinnvoll.
Autoren- & Quelleninformationen
- Melissa Whitelaw, Predictors of Complications in Anorexia Nervosa and Atypical Anorexia Nervosa: Degree of Underweight or Extent and Recency of Weight Loss?, Journal of Adolescent Health, Volume 63, Issue 6, Pages 717–723 DOI: https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2018.08.019