NetDoktor-Chefredakteur Jens Richter

Deutschland ist bereit für die Impfung – wir auch? Ein Kommentar

Von , Chefredakteur und Humanmediziner
Jens Richter

Jens Richter ist Chefredakteur bei NetDoktor. Seit Juli 2020 ist der Mediziner und Journalist außerdem als COO für den Geschäftsbetrieb und die strategische Weiterentwicklung von NetDoktor verantwortlich.

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Seit der letzten Dezemberwoche läuft in Deutschland die Corona-Impfung. Doch mehr als die Hälfte der Deutschen hat Bedenken. Die eilige Entwicklung und Testung völlig neuartiger Impfstoffe wirft viele Fragen auf – und die Politik bleibt Antworten schuldig.

Normalerweise hätte diese Nachricht einen europaweiten Seufzer der Erleichterung verdient: Es darf geimpft werden. Der erste Impfstoff, jener von BioNTech/Pfizer, ist seit dem 21. Dezember zugelassen, mehr als 400 Impfzentren stehen und haben bereits ihre Probeläufe bestanden. Und auch die Impfverordnung, nach der zuerst die Risikogruppen, die Mitarbeiter im Gesundheitswesen und weitere systemrelevante Berufsgruppen und irgendwann wir alle geimpft werden sollen, ist von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn inzwischen unterzeichnet.

Viele Fragen unbeantwortet

Es lief alles Hand in Hand, so die Botschaft der Politik. Doch in weiten Teilen der Bevölkerung ist die Wahrnehmung eine ganz andere: Es lief vor allem hopplahopp! Und „hopplahopp“ schafft selbst in grösster Not kein Vertrauen.

Wie sicher ist der neuartige mRNA-Impfstoff denn wirklich? Was weiss man über Langzeitfolgen? Welche Nebenwirkungen sind normal und welche gefährlich? Wer darf geimpft werden und wer besser (noch) nicht? Bin ich als Geimpfter noch ansteckend oder bekomme ich eine „Greencard“ und kann auf A-H-A und Co. verzichten? Wie lange hält der Schutz überhaupt? Und schliesst er die neue Virus-Mutation tatsächlich ein?

Viele berechtigte Fragen – und die Sorgen der Menschen sind umso grösser geworden, je näher die Zulassung der Impfstoffe kam. Und je mehr man über sie wusste. Nur noch 48 Prozent der Deutschen würden sich – Stand heute – gegen Covid-19 impfen lassen. Gut 30 Prozent weniger als noch im Frühjahr.

Und unter dem medizinischen Personal, das in besonderer Weise infektionsgefährdet ist, scheint die Impfbereitschaft sogar noch geringer. Das musste die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut kürzlich einräumen. Obwohl der wirtschaftliche und soziale Stress des zweiten Lockdowns für die meisten Menschen doch kaum noch auszuhalten ist. Und die volkswirtschaftlichen Schäden den Blick in die Zukunft zunehmend verdüstern.

Vor allem Beschwichtigungen und Appelle

Woran liegt das? Es liegt daran, dass die eigene Gesundheit und die der Lieben über allem steht. Und dass eine mündige Entscheidung über diese Gesundheit Information braucht – und Transparenz.

Doch statt Information und Offenheit kommen aus der Politik vor allem Beschwichtigungsmanöver. Breite Informationskampagnen, etwa über die Krankenkassen – Fehlanzeige! Auf dem Internetportal des Gesundheitsministeriums findet man in einem sogenannten FAQ zwar ellenlang Administratives. Doch zu den wichtigen Fragen nach den Nebenwirkungen und der Sicherheit des Impfstoffs gibt es nur ganz weit unten zwei dürre und nichtssagende Statements.

Noch enttäuschender das aus Steuermillionen finanzierte nationale Gesundheitsportal, das im Spätsommer ans Netz ging. Zur Corona-Impfung ein einziger Textabsatz – Wissensstand früher September 2020.

Vertrauen kann man nicht verordnen

Dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn der Europäischen Arzneimittel-Zulassungsbehörde EMA zuletzt auch noch in den Rücken fiel, als er plötzlich, von der Opposition und der Bundeskanzlerin getrieben, eine Zulassung noch vor Weihnachten einforderte, hat das Vertrauen in eine sorgfältige Prüfung der Impfstoff-Studien zusätzlich beschädigt. „Spahn hat Druck ausgeübt“, sagt der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Prof. Wolf-Dieter Ludwig, der auch Mitglied im Führungsgremium der EMA ist.

Er hat Verständnis für die Zurückhaltung der Bürger, wenn sie nach ihrer Bereitschaft zur Impfung befragt werden. „Wenn ich jetzt entscheiden müsste, weil ich 80 [Jahre alt] wäre und ich hätte keine Begleiterkrankungen […], würde ich mich, glaube ich, derzeit noch nicht impfen lassen, sondern die ersten Erfahrungen aus diesem Impfprogramm abwarten.“

Das sagt jemand, der so gut wie kein anderer weiss, dass die Impfung die einzige Möglichkeit ist, die Pandemie in absehbarer Zeit in den Griff zu bekommen. Der aber auch verstanden hat, dass Vertrauen nur dort entstehen kann, wo auch jene Fragen Raum bekommen, auf die es vielleicht heute noch keine befriedigende Antwort geben kann. Vertrauen kann man nicht verordnen.

Impfen ja, aber mit Überzeugung

Ja – die Impfung eines grossen Teils der Bevölkerung ist unsere einzige Chance, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Wir brauchen die Herdenimmunität. Und dafür reichen 48 Prozent Impfwillige nicht aus. Aber die Entscheidung für oder gegen die Impfung mit einem so neuen und wenig erprobten Impfstoff ist eine individuelle und muss es auch bleiben. So sieht es auch der Europäische Ethikrat. Auf die Fragen und Sorgen der Menschen braucht es deshalb ehrliche, unabhängige und wissenschaftlich fundierte Antworten. Auch wenn diese am Ende lauten: „Wir wissen es noch nicht.“

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Rund um die Corona-Impfung hat die NetDoktor-Redaktion ein umfangreiches Themen-Spezial zusammengestellt, das stetig weiterwächst. Auch dort finden Sie zwar noch nicht auf alle Fragen eine Antwort, aber ganz sicher die besten Antworten, die es gibt – unabhängig, wissenschaftlich fundiert und aktuell.

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Jens Richter ist Chefredakteur bei NetDoktor. Seit Juli 2020 ist der Mediziner und Journalist außerdem als COO für den Geschäftsbetrieb und die strategische Weiterentwicklung von NetDoktor verantwortlich.

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