Frau schaut sich Süßwaren an

Binge-Eating: Neurofeedback bezähmt Essattacken

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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Binge-Eating ist eine Essstörung, bei der die Betroffenen während Heisshungerattacken unkontrolliert essen. Die meisten von ihnen sind übergewichtig. Ein Neurofeedback-Training kann helfen, die Essanfälle in den Griff zu bekommen.

Das zeigt eine Pilotstudie der Universität Leipzig. Die 39 Teilnehmer konnten ihre Anfälle durch ein Neurofeedback-Training um 60 Prozent reduzieren. Ein Drittel der Probanden blieb sogar gänzlich anfallsfrei.

Auffällige Hirnwellen

Schon früher hatte das Leipziger Forschungsteam festgestellt, dass von Binge-Eating betroffene Menschen auffällige Muster von Hirnwellen zeigten. Diese entstehen, wenn Nervenzellen sich zusammenschliessen und gemeinsam gleichartige elektrische Impulse aussenden. Sie lassen sich über Elektroden an der Kopfhaut mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) messen. Die gemessenen Frequenzen hängen unter anderem vom Wachheits- und Konzentrationsgrad ab – im Tiefschlaf beispielsweise sind sie am niedrigsten.

Bei den Binge-Eating-Patienten war die Aktivität der sogenannten Beta-Wellen verstärkt. Sie werden im wachen, konzentrierten Zustand vor allem im Frontalhirn gemessen. Bei Stress, Besorgtheit und innerer Unruhe sind die Wellen höher als gewöhnlich – bei den untersuchten Teilnehmern war das mit 13 bis 28 Hz der Fall.

Umgekehrt sind die sogenannten Theta-Wellen bei Menschen mit der Essstörung reduziert. Diese liegen im Bereich von 4 bis 8 Hz. Dominieren sie, zeigt das an, dass das Gehirn in einen Dämmerzustand gleitet. Auch bei Meditationen senden die Neuronen Theta-Wellen aus.

Neurofeedback beeinflusst die Hirnwellen

Mit einem Neurofeedback-Training lassen sich die unbewusst erzeugten Hirnwellen beeinflussen. Sie werden mithilfe eines EEGs über Elektroden an der Kopfhaut abgeleitet und mittels eines Computerprogramms in Töne und Bilder auf einem Monitor übersetzt.

Spezielle Programme sind darauf geeicht, Veränderungen der Hirnwellen in Bilder und Töne zu übersetzen. Beispielsweise steigt eine Kugel bei erwünschten Hinströmen nach oben oder sinkt bei unerwünschten ab, Töne werden lauter oder leiser. Auch wenn der Trainierende die Veränderungen nicht bewusst wahrnehmen kann, lernt sein Gehirn, den angestrebten Zustand zu erzeugen.

Bessere Kontrolle von Impulsen

Als unterstützende Massnahme wird Neurofeedback unter anderem bereits bei ADHS und Migräne angewendet, aber auch bei substanzgebundenen Suchterkrankungen wie Alkoholismus. Und diese haben mit einer Binge-Eating-Störung viel gemein: Suchterkrankungen und den Heisshungerattacken liegt eine erhöhte Impulsivität zugrunde. Die Betroffenen können spontane Handlungsimpulse weniger gut hemmen.

Stattdessen sprechen sie stark auf Belohnungsreize an – sei es Nahrung, Alkohol oder Nikotin. Gerade in Stresssituationen tritt dann ein schier unbezähmbarer Drang auf, das Suchtmittel zu konsumieren. Das alles begünstigt einen Kontrollverlust.

Das Team um die Psychologin Marie Blume von der Universität Leipzig hielt es daher für vielversprechend, Neurofeedback auch zur Behandlung von Binge-Eating einzusetzen. Tatsächlich ist die Beta-Wellen-Aktivität bei den Betroffenen auch in Ruhe und insbesondere beim Anblick von Lebensmitteln erhöht. Das deutet auf eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine verstärkte Wahrnehmung bestimmter Reize hin.

Wenn das Gehirn stark auf Nahrungsmittel reagiert

Die 39 Teilnehmenden waren übergewichtig und nahmen aktuell an keiner psychotherapeutischen Behandlung teil.

20 Probanden durchliefen ein nahrungsspezifisches Neurofeedback-Programm, bei dem ihnen während des Trainings Nahrungsmittel gezeigt wurden, die sie zuvor als besonders appetitlich bewertet hatten. Angestrebt wurden dabei eine Beruhigung der Beta-Hirnwellenaktivität im Frontalhirn sowie eine allgemeine Intensivierung der Theta-Wellen.

Die übrigen 19 Teilnehmenden durchliefen ein allgemeines Neurofeedback Programm, das auf eine Beruhigung der äusseren Hirnrinde abzielte, wie es bereits erfolgreich zur Behandlung von ADHS eingesetzt wird.

Das Training erfolgte jeweils in Form von insgesamt 10 Sitzungen à 30 Minuten über einen Zeitraum von sechs Wochen.

60 Prozent weniger Essattacken

Mit Erfolg: Das Verlangen, sich zu überessen, nahm ab, die Essanfälle reduzierten sich im Durchschnitt um mehr als die Hälfte (60 Prozent). Bei manchen Teilnehmenden blieben sie sogar ganz aus. Und: Der Effekt blieb auch über den Beobachtungszeitraum von drei Monaten hinaus stabil. Das galt für beide Testgruppen. Auch im Ruhezustand war in beiden Gruppen die Beta-Wellen-Aktivität reduziert, während die Theta-Wellen-Aktivität moderat höher war als zuvor.

Wer die Fähigkeit zur Kontrolle der Hirnströme einmal verinnerlicht hat, kann sie im Idealfall jederzeit und überall auch unbewusst einsetzen. Allerdings hat die Forschung noch nicht abschliessend geklärt hat, wie das genau funktioniert.

Autoren- & Quelleninformationen

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Quellen:
  • Marie Blume et al.: EEG Neurofeedback in the Treatment of Adults with Binge-Eating Disorder: a Randomized Controlled Pilot Study, Neurotherapeutics 20. Dez. 2021, https://doi.org/10.1007/s13311-021-01149-9
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