Ergotamin

Von , Apothekerin und Studentin der Humanmedizin
Anne Strehlau

Anne Strehlau studierte Pharmazie an der LMU München und war anschließend als Apothekerin in einer niedergelassenen Apotheke und am Uniklinikum der LMU tätig. Dabei merkte sie schnell, wie sehr sie die Schnittstelle zwischen Naturwissenschaften und Medizin interessiert, weshalb sie nun ergänzend das Studium der Humanmedizin absolviert. Seit Juni 2022 schreibt sie zudem für NetDoktor.

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Ergotamin ist eines der ältesten Arzneimittel zur Behandlung der Migräne. Es wird vor allem bei langandauernden Migräneanfällen und zur Vorbeugung von Cluster-Kopfschmerzen eingesetzt. Aufgrund zahlreicher Nebenwirkungen ist Ergotamin jedoch nicht das Mittel der ersten Wahl. Hier erfahren Sie mehr über die Wirkweise, Anwendung und möglichen Nebenwirkungen von Ergotamin.

So wirkt Ergotamin

Ergotamin ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der Mutterkornalkaloide. Nach Einnahme wirkt es auf vielfältige Weise im Körper. Die Wirksamkeit bei Migräne beruht vor allem darauf, dass Ergotamin ähnlich aufgebaut ist wie der körpereigene Botenstoff Serotonin.

Der Wirkstoff bindet daher ebenfalls an den Serotonin-Andockstellen (5HT1-Rezeptoren) im Gehirn. Infolgedessen verengen sich die Blutgefässe im Gehirn und die Nervenzellen setzen weniger entzündungsfördernde Botenstoffe frei. Ergotamin wirkt daher zwei Mechanismen entgegen, die wahrscheinlich eine Migräneattacke hervorrufen.

Darüber hinaus bindet Ergotamin auch an anderen Andockstellen. Dazu gehören

  • Rezeptoren an Blutgefässen (Alpha-Adrenozeptoren): Dadurch wirkt Ergotamin gefässverengend auf Schlagadern und Venen.
  • Rezeptoren an der Gebärmutter: Ergotamin lässt die Gebärmuttermuskulatur zusammenziehen und kann dadurch Wehen auslösen.
  • Dopamin-Rezeptoren im zentralen Nervensystem, etwa im Brechzentrum, wodurch Ergotamin Übelkeit und Erbrechen verursacht.

Die Bindung an diese Andockstellen erklärt vor allem die Nebenwirkungen des Wirkstoffs.

Wie Ergotamin wiederum Cluster-Kopfschmerzen vorbeugt, ist nicht genau bekannt.

Aufnahme, Abbau und Ausscheidung

Ergotamin wird ungleichmässig über den Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Die Leber verstoffwechselt einen Grossteil des Wirkstoffs und nur ein bis zwei Prozent gelangen ins Blut. Bis zur maximalen Menge Ergotamin im Blut dauert es eine halbe bis drei Stunden. Folglich ist die Wirksamkeit im Körper schwankend. Nach Abbau in der Leber, scheidet der Körper Ergotamin grösstenteils über die Galle wieder aus.

Wann wird Ergotamin eingesetzt?

Ergotamin ist zur Behandlung von insbesondere langen Migräneanfällen zugelassen, wenn andere Medikamente nicht ausreichend wirken oder ungeeignet sind.

Ausserdem verschreiben Ärzte Ergotamin, um für eine begrenzte Zeit Cluster-Kopfschmerzen vorzubeugen. Betroffene nehmen den Wirkstoff ein, bis die Wirkung einer geeigneteren vorbeugenden Langzeit-Therapie einsetzt. Die Anwendung erfolgt insbesondere bei Patienten, die unter nächtlichen Cluster-Kopfschmerzanfällen leiden. Zudem gibt es keine direkte Zulassung für Cluster-Kopfschmerzen. Ärzte wenden den Wirkstoff in diesen Fällen daher "off-label" an.

So wird Ergotamin eingenommen

Patienten nehmen Ergotamin so früh wie möglich bei Beginn einer Migräneattacke ein. Der Wirkstoff liegt als Tablette vor, welche man vor dem Schlucken ausreichend zerkaut und einige Zeit im Mund belässt. Gehen Migräneattacken mit Übelkeit oder Erbrechen einher, ist es empfehlenswert, die Tablette in einem halben Glas Wasser aufzulösen und dann zu trinken.

Die übliche Dosis ist eine Tablette Ergotamin (entsprechen zwei Milligramm). Tritt erneut eine Migräneattacke auf, können Betroffene frühestens nach vier bis sechs Stunden eine weitere Dosis Ergotamin einnehmen. Die maximale Menge innerhalb eines Tages sind zwei Tabletten. Die Höchstmenge in einer Woche besteht hier aus drei Tabletten.

Anzeichen einer akuten Überdosierung sind starke Übelkeit, Herzrasen, Bluthochdruck und schmerzhafte Durchblutungsstörungen bis hin zum Gefässverschluss. Zusätzlich sind Benommenheit und Verwirrtheit möglich. Besteht der Verdacht einer Überdosierung, suchen Sie unverzüglich ein Arzt auf.

Um Cluster-Kopfschmerzen kurzzeitig vorzubeugen, nehmen Betroffene beispielsweise morgens und abends eine Tablette ein. Leiden die Patienten vor allem nachts unter Attacken, raten Mediziner meist dazu, Ergotamin kurz vor dem Schlafengehen zu schlucken.

Übrigens: Da Ergotamin zur Prophylaxe von Cluster-Kopfschmerzen nicht ausdrücklich zugelassen ist, gibt es keine konkreten Informationen dazu in den Beipackzetteln entsprechender Präparate. Besprechen Sie die Einnahme daher ausführlich mit Ihrem Arzt und nehmen Sie die Tabletten nur so ein, wie verordnet.

Welche Nebenwirkungen hat Ergotamin?

Ergotamin bindet nicht nur selektiv an die Serotonin-Andockstellen (Rezeptoren), welche zur Linderung der Migräneattacken beitragen. Der Wirkstoff aktiviert noch weitere Rezeptoren und hat dadurch einige unerwünschte Nebenwirkungen.

Häufig betreffen diese den Magen-Darm-Trakt. Ergotamin erregt unter anderem die Dopamin-Andockstellen des Brechzentrums: Betroffenen ist übel und sie müssen sich übergeben. Ausserdem ruft der Wirkstoff bei einigen Menschen Durchfälle hervor.

Zu Beginn der Behandlung mit Ergotamin fühlen sich Patienten gelegentlich benommen, verwirrt oder leiden unter Kopfschmerzen. Zusätzlich nehmen sie Missempfindungen (Parästhesien) wahr, welche sich als ein taubes Gefühl oder Kribbeln in Armen und Beinen äussern. Auch Muskelschmerzen oder Muskelschwäche sind mögliche Nebenwirkungen, ebenso Krampfanfälle.

Ergotamin verengt Blutgefässe und kann dadurch den Blutdruck erhöhen und die Durchblutung stören. Nehmen Patienten Ergotamin über einen längeren Zeitraum ein, drohen Gefässverschlüsse durch den dauerhaft gestörten Blutfluss.

Die Langzeiteinnahme macht den Körper auch schmerzempfindlicher, was einen Dauerkopfschmerz (medikamenteninduzierten Kopfschmerz) verursachen kann.

Vereinzelt bewirkt Ergotamin eine Durchblutungsstörung des Herzmuskels, welche sich mit starken Schmerzen hinter dem Brustbein äussert (Angina Pectoris). Dabei sind auch Herzrhythmusstörungen möglich.

Lassen Sie plötzliche starke Schmerzen und ein Engegefühl in der Brust, begleitet von Atemnot, Schweissausbrüchen und Übelkeit unverzüglich ärztlich abklären.

Wann sollte man Ergotamin nicht einnehmen?

Es gibt einige Umstände, unter denen man Arzneimittel mit Ergotamin nicht einnehmen darf. Dazu gehören:

  • einer Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff oder einem der sonstigen Bestandteile des Medikaments
  • bekannte Durchblutungsstörungen des Gehirns oder der grossen Arterien der Arme und Beine (periphere arterielle Verschlusskrankheit - pAVK)
  • Erkrankungen der Herzkranzgefässe (Koronare Herzkrankheit)
  • Bluthochdruck
  • schwere Leber- und Nierenerkrankungen
  • ein Tumor des Nebennierenmarks (Phäochromozytom)
  • eine thyreotoxische Krise (Erkrankung der Schilddrüse mit zu hoher Menge an Schilddrüsenhormonen im Blut)
  • eine bekannte durch Medikamente ausgelösten Gewebeveränderung mit vermehrter Bildung von Bindegewebe (Fibrose)
  • Schwangerschaft und Stillzeit (Ergotamin kann Wehen auslösen)

In Ergotamin Tabletten ist Lactose enthalten. Patienten, die an einer Galactose- oder Lactose-Intoleranz leiden, nehmen Ergotamin Tabletten besser nicht ein.

Ausserdem ist Ergotamin nicht geeignet für Menschen, die folgende Medikamente einnehmen:

  • Triptane und andere ergotaminhaltige Arzneimittel
  • Medikamente gegen HIV (HIV-Protease-Inhibitoren, z.B. Ritonavir)
  • Beta-Blocker
  • Makrolid-Antibiotika (z.B. Azithromycin, Erythromycin)
  • Tetracyclin-Antibiotika

Diese Wechselwirkungen können bei Ergotamin auftreten

Bei Patienten, die zeitgleich Medikamente zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Beta-Blocker) einnehmen, ist eine schlechtere Durchblutung der grossen Arterien in Armen und Beinen möglich. Ergotamin hat, wie auch einige Beta-Blocker eine gefässverengende Wirkung, weshalb sich dieser Effekt bei gleichzeitiger Einnahme verstärkt .

Ergotamin wird in der Leber über ein Enzym-System (CYP3A4) abgebaut. Wenden Patienten gleichzeitig Wirkstoffe an, die dieses System hemmen (CYP-Inhibitoren), verhindert das den Abbau von Ergotamin. Folglich ist die Konzentration des Wirkstoffs im Blut erhöht, die gefässverengende Wirkung wird verstärkt und Durchblutungsstörungen treten auf. Zu diesen Inhibitoren zählen zum Beispiel Makrolid-Antibiotika, verschiedene Medikamente gegen Pilzinfektionen und auch Grapefruit.

Informieren Sie ihren Arzt oder Apotheker über die Einnahme weiterer Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel!

Ergotamin in der Schwangerschaft und Stillzeit

Ergotamin verengt Blutgefässe und kann dadurch die Blutversorgung des ungeborenen Kindes über die Plazenta vermindern oder vollständig unterbrechen.

Durch die Wirkung an Alpha-Rezeptoren vermittelt Ergotamin zudem ein rhythmisches Zusammenziehen der Gebärmuttermuskulatur. Infolgedessen löst der Wirkstoff vorzeitige Wehen aus und erhöht das Risiko einer Fehlgeburt. Ergotamin darf in der Schwangerschaft nicht eingenommen werden.

Während der Stillzeit verringert Ergotamin die Milchproduktion. Unter Umständen bleibt sie ganz aus. Der Grund: Ergotamin wirkt an der Hirnanhangsdrüse wie Dopamin und verhindert so die Freisetzung des Hormons Prolaktin, das normalerweise die Milchproduktion in der Brustdrüse anregt.

Ergotamin geht ausserdem in die Muttermilch über und ruft beim Neugeborenen Durchfall, Erbrechen und Krämpfe hervor. Wollen stillende Frauen Ergotamin unbedingt einnehmen, müssen sie laut Herstellerinformationen vor der Einnahme abstillen.

Als Alternative ist bei leichten Migräneattacken das Schmerzmittel Paracetamol während der gesamten Schwangerschaft am besten geeignet. Bei stärkeren Schmerzen oder wenn Paracetamol nicht ausreichend wirkt, verordnen Ärzte in der Schwangerschaft und Stillzeit Triptane die gut untersucht sind, wie zum Beispiel Sumatriptan. Idealerweise pausieren Mütter das Stillen für zwölf Stunden nach der Einnahme.

Sprechen Sie vor der Einnahme von Arzneimitteln in der Schwangerschaft und Stillzeit mit Ihrem Arzt.

So erhalten Sie Medikamente mit Ergotamin

In Deutschland ist Ergotamin in jeder Dosierung und Packungsgrösse rezeptpflichtig. Es ist also nur mit ärztlicher Verschreibung in Apotheken erhältlich.

Arzneimittel mit dem Wirkstoff Ergotamin sind in der Schweiz seit 2014 nicht mehr im Handel. In Österreich sind derzeit ebenfalls keine Medikamente mit Ergotamin erhältlich.

Seit wann ist Ergotamin bekannt?

Erstmals bekannt wurden Mutterkornalkaloide wie Ergotamin im Mittelalter durch die epidemieartige Erkrankung der Mutterkornvergiftung (Ergotismus). Das Antoniusfeuer, wie die Krankheit noch genannt wurde, trat in unregelmässigen Abständen auf und forderte im Jahr 943 etwa 40.000 Opfer. Die Vergiftung trat nach dem Verzehr von mit Mutterkornpilz besiedeltem Roggen auf.

Nach Erforschung als Grundstoff für Arzneimittel, wurde Ergotamin erstmals 1918 von einem Biochemiker aus der Schweiz aus dem Mutterkornpilz rein hergestellt. Ergotamin diente zu Beginn vorwiegend der Behandlung von Blutungen nach der Geburt und Schwangerschaftsabbrüchen. Später galt es als Mittel der Wahl gegen Migräneattacken.

Aufgrund der häufigen Nebenwirkungen sowie der unregelmässigen Aufnahme und Wirkung im Körper, spielt Ergotamin seit der Entwicklung neuerer Migränetherapeutika nur noch eine untergeordnete Rolle. Durch geeignete Reinigungs- und Kontrollverfahren ist die Belastungshöhe mit Mutterkornpilz bei Getreide heutzutage weitestgehend minimiert.

Autoren- & Quelleninformationen

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Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

Autor:
Anne Strehlau
Anne Strehlau

Anne Strehlau studierte Pharmazie an der LMU München und war anschließend als Apothekerin in einer niedergelassenen Apotheke und am Uniklinikum der LMU tätig. Dabei merkte sie schnell, wie sehr sie die Schnittstelle zwischen Naturwissenschaften und Medizin interessiert, weshalb sie nun ergänzend das Studium der Humanmedizin absolviert. Seit Juni 2022 schreibt sie zudem für NetDoktor.

Quellen:
  • Arzneimittelinformationssystem, unter: www.pharmnet-bund.de (Abrufdatum: 21.09.2022)
  • Fachinformationen zu Ergotamin, unter: www.fachinfo.de (Abrufdatum: 21.09.2022)
  • Geisslinger G et al.: Mutschler Arzneimittelwirkungen - Pharmakologie, Klinische Pharmakologie, Toxikologie, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 11. Auflage, 2020
  • Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN): Clusterkopfschmerz und trigeminoautonome Kopfschmerzen, Stand: Mai 2015 , derzeit in Überarbeitung, unter: www.awmf.org (Abrufdatum: 21.09.2022)
  • Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG): Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, Stand: Dezember 2020, unter: www.awmf.org (Abrufdatum: 21.09.2022)
  • Leitlinie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft in Zusammenarbeit mit den österreichischen und schweizerischen Kopfschmerzgesellschaften: Diagnostik, Therapie und Prophylaxe von Cluster-Kopfschmerz, anderen trigeminoautonomen Kopfschmerzen, schlafgebundenem Kopfschmerz und idiopathisch stechenden Kopfschmerzen, in: Nervenheilkunde 2016; 35:137-151; doi: 10.1055/s-0037-1616368
  • Masuhr, K. et Neumann, M. (Hrsg.): Duale Reihe Neurologie, Thieme Verlag, 7. Auflage, 2013
  • Österreichisches Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG): Rezeptpflichtverordnung, unter: www.basg.gv.at (Abrufdatum: 21.09.2022)
  • Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin - Arzneimittel in der Schwangerschaft und Stillzeit: Ergotamin, unter: www.embryotox.de (Abrufdatum: 21.09.2022)
  • Schaefer, C et.al.: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit, Urban &. Fischer Verlag/Elsevier, München, 8. Auflage, 2012
  • Schweizerisches Heilmittelinstitut: Zugelassene Humanarzneimittel mit Almotriptan, unter: www.swissmedic.ch (Abrufdatum: 21.09.2022)
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