Cytotec: Wie riskant ist es bei der Geburt?

Von , Medizinredakteurin
und , Arzt
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Florian Tiefenböck

Florian Tiefenböck hat Humanmedizin an der LMU München studiert. Im März 2014 stieß er als Student zu NetDoktor und unterstützt die Redaktion seither mit medizinischen Fachbeiträgen. Nach Erhalt der ärztlichen Approbation und einer praktischen Tätigkeit in der Inneren Medizin am Uniklinikum Augsburg ist er seit Dezember 2019 festes Mitglied des NetDoktor-Teams und sichert unter anderem die medizinische Qualität der NetDoktor-Tools.

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Das Medikament Cytotec mit dem Wirkstoff Misoprostol ist in die Schlagzeilen geraten. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung (SZ) und des Bayerischen Rundfunks (BR) soll es die Gesundheit und das Leben von Müttern und Kindern gefährdet haben. Was weiss man über das Mittel und wie gross ist das Risiko wirklich?

Schwangere mit leichten Wehen

Was ist Cytotec?

Cytotec wurde vom Pharmahersteller Pfizer zur Behandlung von Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren entwickelt. Sein Wirkstoff Misoprostol gehört zu den hormonähnlichen sogenannten Prostaglandinen.

Eine Nebenwirkung von Misoprostol ist, dass es auch Wehen auslöst. Daher wird es seit vielen Jahren auch in der Geburtshilfe eingesetzt – obwohl es dafür eigentlich keine Zulassung hat. Für diese sogenannte „Off-Label-Nutzung“ jenseits des eigentlichen Einsatzzwecks entscheiden sich Ärzte im Rahmen ihrer Therapiefreiheit.

Laut einer unveröffentlichten Studie der Universität Lübeck wird das Mittel in rund der Hälfte der deutschen Geburtskliniken verwendet, berichtet die Süddeutsche Zeitung (SZ).

Welche Gefahren birgt der Einsatz von Cytotec in der Geburtshilfe?

Eine medikamentöse Geburtseinleitung ist immer mit Risiken verbunden – egal, welches Medikament man verwendet. Daher wird stets sorgfältig abgewogen, ob eine solche Massnahme geboten ist oder der natürliche Geburtsablauf abgewartet werden kann.

Es besteht aber der Verdacht, dass Mutter und Kind durch Misoprostol stärker gefährdet sein könnten als durch vergleichbare Mittel. Tatsächlich sind Fälle bekannt geworden, in denen der Wirkstoff die Gebärmutter von Frauen überstimuliert hat. Dann können die Wehen so heftig ausfallen, dass die Gebärmutter reisst, was zu lebensgefährlichen Blutungen führen kann.

Für das Kind besonders gefährlich ist ein sogenannter Wehensturm. Dabei folgen die Wehen extrem schnell aufeinander. Das Kind bekommt zu wenig Sauerstoff und kann bleibende Hirnschäden erleiden – oder sogar sterben. Aber: Solche schweren Komplikationen sind auch bei anderen wehenauslösenden Medikamenten möglich.

Beim Einsatz von Wehenmitteln müssen daher die Mutter und das ungeborene Kind streng überwacht werden. Mit einem Cardiotokogramm (CTG) werden Wehentätigkeit und der kindliche Herzschlag laufend überwacht. Alarmzeichen sind beispielsweise ein stark verlangsamter oder aussetzender Herzschlag des Ungeborenen. Dann holen Ärzte das Kind rasch per Notkaiserschnitt.

Wie häufig treten unter Cytotec Probleme auf?

Die Häufigkeit schwerer Komplikationen durch Misoprostol ist nirgends festgehalten. Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) liegt laut SZ nur eine entsprechende Meldung vor. Der Bayerische Rundfunk und die SZ wollen aber bei ihren Recherchen auf weitere Fälle gestossen sein. Inzwischen hätten sich zahlreiche Frauen gemeldet, berichten die Medien.

Warum diese Diskrepanz zwischen Nebenwirkungsberichten und offiziell gemeldeten Fällen?

Ein Grund könnte sein, dass Ärzte solche Anwendungskomplikationen nicht melden müssen. Eine Meldepflicht besteht nur für den Hersteller, im Fall von Cytotec also für Pfizer. Das Unternehmen hat das Mittel aber bereits 2006 vom deutschen Markt genommen. Die hierzulande eingesetzten Medikamente werden heute aus dem Ausland bezogen.

Warum dürfen Ärzte Cytotec in der Geburtshilfe einsetzen?

Die Off-Label-Nutzung von Medikamenten ist eine gängige Praxis. Davon profitieren beispielsweise Patienten mit seltenen Erkrankungen, für die es keine zugelassenen Medikamente gibt. Auch werden die meisten Medikamente aus ethischen Gründen lediglich an Erwachsenen getestet. Die Behandlung von Kindern ist daher oft nur „off label“ möglich.

In solchen Fällen hat der Arzt eine sogenannte Therapiefreiheit. Er darf also nach seinem besten Wissen und Gewissen frei entscheiden, welche Behandlung er dem Patienten vorschlagen möchte. Allerdings muss er den Patienten insbesondere vor einer Off-Label-Nutzung ausführlich über die Risiken und Behandlungsalternativen aufklären.

Für welchen Einsatz ist Cytotec zugelassen?

Für die Zulassung eines Präparats muss in aufwendigen klinischen Studien der Nachweis seiner Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit erbracht werden. Das gilt aber nicht für die Off-Label-Verwendung.

Pfizer hatte für Cytotec lediglich die Zulassung als Magenmittel erwirkt, nicht jedoch als geburtseinleitendes Medikament. Auch fehlen Studien zur angemessenen Dosierung als Wehenmittel.

Gibt es zugelassene Alternativen zu Cytotec?

Das Hormon Oxytocin hat eine Zulassung als geburtseinleitendes Medikament. Zudem gibt es dem Misoprostol verwandte Substanzen mit Zulassung zur Weheneinleitung. Sie sollen aber weniger wirksam sein.

Was sagen Experten zum Einsatz von Cytotec in der Geburtshilfe?

Kritiker, so etwa der Gynäkologe Prof. Peter Husslein, der die Universitäts-Frauenklinik in Wien leitet, führen an, Cytotec habe zahlreiche Todesfälle verursacht. Angesichts zugelassener Alternativen sehe er keinen Grund, ein nicht zugelassenes Medikament wie Cytotec anzuwenden, so Husslein gegenüber der SZ.

Manche Ärzte setzen jedoch auf Cytotec, weil damit die Geburt schneller vonstattengeht. Zudem seien die zugelassenen Alternativpräparate deutlich teurer. Statt ein paar Cent sind nach Angaben der SZ für den Einsatz von Alternativen dreistellige Beträge fällig.

Hat Cytotec Vorteile?

Ein weiterer Aspekt ist die Zuverlässigkeit von Misoprostol. Manchmal kann durch seinen Einsatz ein Kaiserschnitt verhindert werden.

Prof. Michael Abou-Dakn, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe im St. Joseph Krankenhaus in Berlin-Tempelhof weist gegenüber der Ärztezeitung darauf hin, dass Cytotec hierfür wesentlich wirksamer sei als seine Alternativen. Zudem sei das Nebenwirkungsspektrum bei allen geburtseinleitenden Mitteln in etwa vergleichbar.

Das bestätigt auch die renommierte Cochrane Stiftung, die in einer 2018 aktualisierten Übersichtsstudie Wirkung und Risiken von Mitteln zu Geburtseinleitung untersuchte. Sie seien bei allen gängigen Wirkstoffen vergleichbar mit denen von Misoprostol. Ausgewertet wurden 75 Studien mit insgesamt fast 14.000 Teilnehmerinnen.

Die Cochrane-Studie belegt auch, dass schwere Komplikationen insgesamt so selten auftraten, dass keine Unterschiede in den Risiken der verschiedenen Medikamente gefunden werden konnten. Dafür müssten nach Angaben des Instituts etwa doppelt bis zehnmal so viele Fälle untersucht werden.

Gibt es Empfehlungen für den Einsatz von Cytotec?

Die Internationale Vereinigung für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO) befürwortet den Einsatz von Misoprostol. Allerdings empfiehlt sie, das Mittel zur Geburtseinleitung maximal in Dosen von 25 Mikrogramm alle zwei Stunden zu verabreichen.

Zu dem gleichen Vorgehen rät auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Im Klinikalltag würden aber immer wieder deutlich höhere Dosen gegeben, warnen Kritiker.

Die medizinische Leitlinie deutscher Fachgesellschaften zum Einsatz von Prostaglandinen in der Geburtshilfe wurde im August 2008 zuletzt überarbeitet und ist veraltet. Derzeit arbeitet man an einer Aktualisierung. Mit dem Hinweis der notwendigen Aufklärung nannte die Leitlinie Misoprostol als „off-label“-verwendbares Wehenmittel.

Was können werdende Mütter tun?

Schwangere Frauen sollten darauf bestehen, sämtliche Behandlungsalternativen ausführlich erklärt zu bekommen und über mögliche Risiken umfassend aufgeklärt zu werden. Beispielsweise, ob das Einleiten der Geburt tatsächlich notwendig ist, welche Möglichkeiten zur Einleitung zur Verfügung stehen oder ob ein Kaiserschnitt die bessere Alternative wäre.

Diese Aufklärungspflicht seitens der Ärzte besteht beim Off-Label-Gebrauch von Medikamenten im besonderen Masse. Viele Fragen lassen sich in aller Ruhe im Vorfeld der Geburt, etwa im Gespräch mit den ambulant betreuenden Frauenärzten, klären.

Muss eine Geburt eingeleitet werden, besteht aber auch in der Klinik noch genügend Zeit für ein Gespräch.

Lesen Sie hier alles über den Wirkstoff Misoprostol, seine Wirkweise, Anwendung und Nebenwirkungen!

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Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

Autoren:

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Florian Tiefenböck hat Humanmedizin an der LMU München studiert. Im März 2014 stieß er als Student zu NetDoktor und unterstützt die Redaktion seither mit medizinischen Fachbeiträgen. Nach Erhalt der ärztlichen Approbation und einer praktischen Tätigkeit in der Inneren Medizin am Uniklinikum Augsburg ist er seit Dezember 2019 festes Mitglied des NetDoktor-Teams und sichert unter anderem die medizinische Qualität der NetDoktor-Tools.

Quellen:
  • Cytotec in der Geburtshilfe: Reaktionen auf BR-Recherche, BR, 12.02.2020
  • Cytotec (Misoprostol) zur Geburtseinleitung - Evidenz aus der Cochrane Library, Pressemitteilung der Cochrane Deutschland Stiftung (CDS), 13.02.2020
  • Cytotec zur Geburtseinleitung; Warum Gynäkologen auf Misoprostol setzen, Ärztezeiung online, 12.02.2020
  • Geburtseinleitung Kleine Tablette, großes Risiko, Tagesschau, 11.02.2020
  • Geburtshilfe:"Cytotec hat zahlreiche mütterliche Todesfälle verursacht", SZ, 12. Februar 2020
  • Internationale Vereinigung für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO, The International Federation of Gynecology and Obstetrics): Empfehlungen für den alleinigen Einsatz von Misoprostol, www.figo.org (Abrufdatum: 14.02.2020)
  • Interview zu Misoprostol: „Komplikationen sind sehr selten“, Ärztezeitung 12.02.2020
  • Zur Geburt ein Magenmittel, SZ, 12.02.2020
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