"Mein neues Herz bollert und rumpelt"

Von Antje Heidböhmer
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Brustschmerzen, Atemnot und in der Klinik Herzstillstand - die 48jährige Kerstin Fendrich hatte kaum noch eine Chance. Heute lebt sie mit einem fremden Herzen und gewinnt im Sport Medaillen

Die Luft ist eisig am 26. Januar 2010. Es stürmt und hagelt am Flughafen Hamburg. Der Flieger aus Stuttgart schafft es gerade noch zu landen. An Bord: ein Herz, sicher verpackt in einem Spezialbehälter. Ein neues Leben für Kerstin Fendrich. Zwei Jahre davor ahnt sie noch nicht, dass sie einmal lebensgefährlich erkranken würde. Nach einer Aerobicstunde radelt sie im April 2008 durch Kollmar, einem Dorf am Ufer der Elbe, und geniesst die warme Frühlingsluft. Kurz geht sie noch mit dem Hund raus, zieht sich den Schlafanzug an, blödelt mit dem Sohn im Badezimmer herum. Plötzlich fällt sie einfach um. Ihr Kiefer schmerzt, als ob sich eine Kralle hineinbohrt. Brustschmerzen und Atemnot kommen dazu. Ihr Arm wird lahm, die Schulter tut weh. Auch sprechen kann sie nicht mehr deutlich. Ihr Sohn, damals 17, sieht die Panik in ihren Augen und wählt sofort die 112. Der Notarztwagen kommt – aber ohne Notarzt.

"Dreh um, du hast drei Kinder"

Die zwei Sanitäter denken zuerst, sie hätte sich beim Sport verrenkt. Erst eine Freundin überzeugt sie, Kerstin Fendrich überhaupt mitzunehmen. Wertvolle Zeit verstreicht, bis man sie schliesslich ins Klinikum Itzehoe einliefert. Da ist es schon fast zu spät. Zwei Koronargefässe sind gefährlich verengt. Die Ärzte versuchen, zwei Stents zu setzen: Stützen, die die Gefässe offen halten. Doch Kerstin Fendrich bekommt Vorhof- und Kammerflimmern, dann: Herzstillstand. „Ich sah mich selbst auf dem Tisch liegen, hörte den Arzt etwas von ‚Defi’ sagen. Ich hatte keine Schmerzen mehr, dachte aber: Dreh um, du hast drei Kinder. So trittst du nicht ab.“

Kerstin Fendrich wird zurück ins Leben geholt. Bis zu diesem Tag war die alleinerziehende Mutter nie ernsthaft krank. Als Sport- und Tanzpädagogin unterrichtete sie Gymnastik, Jazzdance und Ballett, arbeitete nebenbei in der Leitung eines Restaurants. In der restlichen Zeit forderte das grosse Haus mit Garten, Hund und Katzen die  Kraft der zierlichen Person. „Ich bin oft über meine Grenzen gegangen und habe nicht genug auf mich geachtet.“ Ausgebremst: die Powerfrau verbringt mehrere Wochen auf der Intensivstation. Es geht ihr immer schlechter. Im Herzzentrum des Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) wird ihre Mitralklappe rekonstruiert, man legt eine Art Gummiring darum, damit sie wieder schliesst. Ihr Herz pumpt immer schwächer.

Suche nach dem Herz-Ferrari

Ein Transplantationspsychologe legt Kerstin Fendrich nahe, über ein Spenderherz nachzudenken. Zunächst blockt sie ab, will versuchen von selbst gesund zu werden. Sie schafft es, wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen. „Aber ich war schlapp. Der ganze Körper lief auf Sparflamme, mir war immer kalt.“ Kerstin Fendrich lässt sich auf die Warteliste setzen, darf zunächst zu Hause auf ein Spenderherz warten. Eine quälende Zeit. „Ich bekam jedes Mal einen Schreck, wenn das Handy klingelte.“ Zwei Anrufe bekommt sie, zweimal passt das Herz dann doch nicht. „Man suchte das perfekte Organ für mich, sozusagen einen Herz-Ferrari, weil ich noch so jung bin.“

Weil es ihr nicht besser geht, wechselt sie im Herbst 2009 wieder ins UKE, verbringt dort vier Monate auf der Station. Kerstin Fendrich inzwischen den Status HU auf der Liste von Eurotransplant, der Vermittlungszentrale für Organspenden: high urgent, sehr wichtig. Dann endlich die gute Nachricht: Ein passendes Herz wurde gefunden. Sie sieht den Hubschrauber, der das Organ abholt, vom Fenster aus starten. Um zehn Uhr abends  schiebt man sie in den OP. In ihrem Heimatort zünden Freunde und Nachbarn Kerzen an und halten Nachtwache. Was ging ihr durch den Kopf? „Ich habe nur gedacht: Yes! Hab mich gefreut, war gar nicht aufgeregt.“ In etwas über vier Stunden setzt ihr Tobias Deuse, Oberarzt und Leiter der thorakalen Transplantation, mit seinem Team das neue Herz ein. Um 0.35 Uhr beginnt es zu schlagen. „Am nächsten Morgen um acht sass ich schon wieder im Stuhl, ass Broccolicremesuppe. Mir war endlich wieder warm und ich hatte keine Schmerzen.“

"Herz begrüsst wie ein neues Baby"

Von Anfang an geht es ihr gut mit dem neuen Herz, nach zehn Tagen verlässt sie das Krankenhaus. „Es klopfte im ganzen Körper, weil die Nerven sich noch nicht an das neue Organ gewöhnt hatten. Ich habe es begrüsst wie mein neues Baby und mich mit ihm bekannt gemacht:  Schön, dass du da bist.“ Damit das Herz nicht abgestossen wird, muss sie lebenslang Medikamente zur Immunsuppression nehmen. Die Nebenwirkungen spürt sie: tanzen kann sie nicht mehr, da durch die Medizin die Bänder um die Gelenke weicher geworden sind. Kerstin Fendrich hat sich aufs Schwimmen verlegt und bei der Deutschen Meisterschaft der Organtransplantierten jüngst zweimal Gold im Brust- und Rückenschwimmen geholt.

Hat sich ihr Charakter verändert, weil das Herz eines Fremden in ihr schlägt – entdeckt sie gar ganz neue Züge an sich? Alles Quatsch, sagt Kerstin Fendrich. „Mein neues Herz bollert und rumpelt, ganz anders als das alte, das ich zum Ende ja kaum noch gespürt habe. Aber ansonsten sehe ich es ganz pragmatisch als Pumpe.“ Die Distanz tut ihr gut. Sie kennt das Gerücht, dass Menschen mit einem neuen Herz plötzlich andere Vorlieben haben, auf einmal Klassik mögen oder Motorradfahren. „Meine Theorie ist: Man hat einfach mehr Zeit, einmal in sich zu gehen. Und vielleicht auch etwas Neues aus sich herauszuholen.“

Ihren Spender kennt sie nicht. Aber nach einem Jahr war sie soweit, den Angehörigen über die Deutsche Stiftung Organtransplantation einen Brief zukommen lassen. „Damit sie wissen, dass das Herz gut angekommen ist.“ Eine grosse Narbe auf dem Brustkorb erinnert sie täglich an ihre Herzensangelegenheit. Und auch daran, achtsam mit sich umzugehen. Der Vulkan ist ruhiger geworden.

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