„Wenn Sie nicht vorsorgen, entscheidet jemand anderes“

Von , Medizinredakteurin und Biologin
Luise Heine

Luise Heine ist seit 2012 Redakteurin bei Netdoktor.de. Studiert hat die Diplombiologin in Regensburg und Brisbane (Australien) und sammelte als Journalistin Erfahrung beim Fernsehen, im Ratgeber-Verlag und bei einem Print-Magazin. Neben ihrer Arbeit bei NetDoktor.de schreibt sie auch für Kinder, etwa bei der Stuttgarter Kinderzeitung, und hat ihren eigenen Frühstücksblog „Kuchen zum Frühstück“.

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So konkret wie möglich müsse eine Patientenverfügung sein, das beschied Anfang August der Bundesgerichtshof. Andernfalls ist sie ungültig. Für medizinische Laien ist das allerdings gar nicht so einfach umzusetzen. Wie man das schwierige Thema am besten angeht, erklärt Dr. med. Rüdiger Ilg* im NetDoktor-Interview.

Dr. med. Rüdiger Ilg

Privatdozent Dr. med. Rüdiger Ilg ist Chefarzt an der Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation der Asklepios Kliniken in Bad Tölz.

Herr Dr. Ilg, was genau leistet eine Patientenverfügung?

Damit fixieren Sie schriftlich, wie Sie in Situationen behandelt werden möchten, in denen Sie sich selbst nicht mehr äussern können – zum Beispiel, weil Sie im Koma liegen. In der Patientenverfügung halten Sie fest, welche therapeutischen Massnahmen Sie wünschen und welche nicht. Typische Stichwörter sind hier künstliche Ernährung oder lebensverlängernde Massnahmen.

Für wen ist das wichtig?

Im Prinzip: für jeden! Sonst könnte es eines Tages zu spät sein. Besonders Menschen, die unter ernsten chronischen Erkrankungen leiden, sollten frühzeitig vorsorgen. Ausserdem entlasten Sie mit so einer Verfügung Ihre Angehörigen. Die haben dann etwas an der Hand, das ihnen sagt, was Sie sich gewünscht hätten.

Chronisch Kranke sind das Eine – aber wie gehen Sie mit Notfallpatienten um?

Das ist immer eine schwierige Situation. Ich kann natürlich keine Reanimation abbrechen, um nach einer Patientenverfügung zu suchen. Ob es eine gibt, das muss man später klären. Vorausgesetzt, der Patient hat sich vorher mit dem Thema Patientenverfügung auseinandergesetzt und eine gemacht.

Wie gehe ich die Sache am besten an?

Beschäftigen Sie sich in Ruhe mit dem Thema, zusammen mit Ihren Angehörigen und auch mit einem Arzt Ihres Vertrauens. Mit seiner Hilfe lässt sich gut konkretisieren, was man sich im Falle des Falles wünscht.

Weil die wenigsten sich vorstellen können, was die therapeutischen Massnahmen im Einzelnen bedeuten?

Genau – deswegen ist das Gespräch mit Ärzten im Vorfeld so wichtig. Klassisches Angstthema ist zum Beispiel die künstliche Ernährung über eine Magensonde. Viele Patienten befürchten, dass das eine Einbahnstrasse ist: Sie glauben, wenn sie die einmal haben, dann bleibt das für den Rest ihres Lebens so. Jede Massnahme kann aber auch wieder beendet werden, wenn sich die Gesamtsituation oder der Wille des Patienten ändert. Da gibt es keinen Automatismus.

Und vielleicht möchte man keine Magensonde, wenn sie nur das Leben verlängert, aber schon, wenn die Hoffnung besteht, dass es einem wieder bessergeht.

Richtig, es kommt immer auf die Situation an. Diese muss immer in Einzelfall kritisch mit allen Beteiligten abgewogen werden um eine bestmögliche Annäherung an den Patientenwillen zu finden.

Es scheint ziemlich kompliziert, alle Eventualitäten zu bedenken.

Ja, aber es gibt sehr gute Vordrucke, zum Beispiel vom Bundesministerium für Justiz. Die bieten ein solides Grundgerüst für die Formulierung einer Patientenverfügung. Wichtig ist allerdings, dass Sie sie personalisieren. Jeder hat persönliche Einstellungen, Erfahrungen, Wertvorstellungen, religiöse oder weltanschauliche Ansichten. Vielleicht haben Sie eine medizinische Massnahme bei Angehörigen oder Bekannten als besonders positiv oder negativ erlebt. So etwas können Sie in Ihre Patientenverfügung einfliessen lassen. Das hilft dann einen Rahmen festzulegen, wie Sie in Fällen, die Sie nicht vorab festlegen konnten, entschieden hätten.

Der Bundesgerichtshof hat kürzlich verfügt, dass Patientenverfügungen sehr konkret sein müssen um wirksam zu sein.

Je konkreter sie gefasst ist, desto besser. Mit vagen Formulierungen wie „Ich will nicht an Schläuchen hängen“, können wir wenig anfangen. Aber selbst Standardformulierungen treffen im Praxisalltag nie exakt zu. Auch die konkreteste Formulierung kann nie alles umfassen, dazu ist der individuelle Krankheitsverlauf einfach zu unterschiedlich. Es gibt viele Situationen, in denen man als Arzt, Bevollmächtigter oder Betreuer eine Entscheidung im Sinne des Patienten treffen muss, auch wenn die vorliegende Situation nicht konkret so in der Patientenverfügung vorausgesehen wurde.

Auch die beste Verfügung kann also nicht alles berücksichtigen.

Eine Patientenverfügung bleibt immer nur eine Annäherung an den Patientenwillen, trotzdem ist das immer noch besser, als wenn man gar nichts in der Hand hat. Noch besser ist es, wenn Sie die Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht kombinieren.

Was ist das?

Damit bevollmächtigen Sie eine Person, die dann Ihren vorausverfügten Willen vertritt. Das kann ein Angehöriger sein oder auch ein Freund. Wir als Ärzte können dann zusammen mit dem Bevollmächtigten versuchen, die Patientenverfügung sinngemäss auf die entsprechende Situation zu übertragen. Das hilft sehr. Je mehr Anhaltspunkte wir für den Willen und die Wertvorstellungen des Patienten haben, desto besser!

Wenn niemand da ist, den Sie fragen können: Wie erfahren Sie überhaupt, dass jemand eine Patientenverfügung gemacht hat?

Sie können die Patientenverfügung im vertrauten Umfeld hinterlegen oder auch beim Hausarzt lassen. Und es gibt die Möglichkeit, das Schriftstück bei der Bundesnotarkammer zu hinterlegen. Da bekommen Sie einen kleinen Ausweis, den Sie mit in den Geldbeutel tun können. Dann wissen Ihre Ärzte Bescheid und können die Verfügung dort anfordern.

Welche Rolle spielen Patientenverfügungen tatsächlich im Klinikalltag?

Eine ganz entscheidende! Denn davon hängt auch das Therapieziel ab. Dieses ist nie rein medizinisch bedingt, sondern hängt immer von der Einwilligung und den Vorstellungen des Patienten ab. Nehmen wir zum Beispiel einen Patienten mit einer schweren Krebserkrankung. Hier kann das Ziel sein, das Leben maximal zu verlängern. Oder der Fokus liegt auf einer möglichst hohen verbleibenden Lebensqualität, zum Beispiel schmerzfrei sterben zu können im Kreise der Familie. Welche Option es sein soll, sollte der Patient selbst entscheiden.

Diese Möglichkeit der Selbstbestimmung nehmen aber nur wenige wahr – warum ist das so?

Wir werden alle sterben. Trotzdem ist der eigene Tod ein Thema, mit dem man sich nicht gerne beschäftigt. Wenn jemand sagt: „Damit möchte ich mich im Moment nicht beschäftigen“ – ist das vollkommen in Ordnung. Aber alle, die sich für das Thema interessieren, sollten die Gelegenheit wahrnehmen, für Situationen vorzusorgen, in denen sie ihre Meinung nicht mehr äussern können. Sonst muss zwangsläufig eine andere Person für Sie entscheiden – und die liegt dabei möglicherweise ganz falsch.

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Luise Heine ist seit 2012 Redakteurin bei Netdoktor.de. Studiert hat die Diplombiologin in Regensburg und Brisbane (Australien) und sammelte als Journalistin Erfahrung beim Fernsehen, im Ratgeber-Verlag und bei einem Print-Magazin. Neben ihrer Arbeit bei NetDoktor.de schreibt sie auch für Kinder, etwa bei der Stuttgarter Kinderzeitung, und hat ihren eigenen Frühstücksblog „Kuchen zum Frühstück“.

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