Vorteil für den Zappelphilipp
ADHS zu haben kann auch von Vorteil sein. Denn der rastlose Körper geht häufig mit einem besonders beweglichen Geist einher. So auch bei Sven O. Miksch.
In der Ferne huscht ein roter Blitz vorbei. „Wieso kriegen Eichhörnchen eigentlich keine Karies?“, schiesst es Sven O. Miksch sofort durch den Kopf. Solche Gedankenspiele sind typisch für den 44-Jährigen. In seinem Kopf rattern unentwegt die Rädchen. Miksch hat ADHS „und zwar in Reinkultur“, wie die Ärzte ihm bescheinigen. Jeder Reiz, jede visuelle Wahrnehmung verarbeitet und analysiert er in Millisekunden. „Das ist spannend, manchmal aber auch wahnsinnig anstrengend“, sagt Miksch, der nach eigenem Bekunden alles aufsaugt wie ein Schwamm.
Bunte Gedankenwelt
Menschen wie Miksch sind geistig oft besonders agil. Wo andere in festen Bahnen denken, gehen sie Probleme experimentierfreudig an. Verbindungen werden hergestellt, wo sie sonst keiner sieht. Nichts steht fest, alles ist vorstellbar – das birgt grosses kreatives Potenzial. „Das Gehirn von ADHSlern ist voller Gedankenwolken, die sehr viel bunter sind als bei Menschen ohne die Störung“, erklärt Prof. Esther Sobanski, von der AHG-Klinik für Psychosomatik in Bad Dürkheim. Das könne die Basis für besondere Leistungen sein, wenn man lerne, sie zu kontrollieren. Inzwischen kriegt Miksch das ganz gut hin. Doch das war nicht immer so.
Späte Diagnose
Ob als Kind oder als Erwachsener - Menschen mit ADHS ecken häufig an. Sie sind oft vergesslich und unorganisiert. Eine Aufgabe zu Ende zu bringen und Kontakte zu pflegen, fällt ihnen schwer. Mit ihrer rastlosen, chaotischen und impulsiven Art können sie ihren Mitmenschen gehörig auf die Nerven gehen: Familienmitgliedern und Mitschülern, Kollegen und Partnern.
Auch bei Miksch lief nicht alles glatt - in der Schule und im Berufsleben, aber auch im privaten Umfeld. Dass der Grund dafür ADHS sein könnte, auf die Idee ist niemand gekommen – auch er selbst nicht: „ADHSler - das waren für mich immer nur zappelige Kinder, die Radau machen.“ Dass auch er von der Störung betroffen ist, hat ein Spezialist erst vor zwei Jahren festgestellt.
So wie Miksch ergeht es Vielen – auf rund zwei Millionen schätzen Experten die Zahl der Erwachsenen mit ADHS in Deutschland. Wie bei Miksch wird die Diagnose oft erst spät gestellt – und häufig auch nie.
Befreiendes Wissen
Dabei kann das Wissen um die Störung ein Befreiungsschlag sein – plötzlich klärt sich, warum es im Leben bislang oft nicht richtig rund lief. „Früher ging es mir wie jemandem, der ein Auto lenkt, das ständig nach links zieht“, berichtet auch Miksch. Der Fahrer müsse die ganze Zeit gegensteuern, was Kraft kostet. „Aber weil man es nicht anders gewöhnt ist, hinterfragt man es nicht mehr.“ Ganz ähnlich sei es ihm mit seinen Problemen gegangen. „Dank der Diagnose aber weiss ich, dass mit meiner Karosserie etwas nicht stimmt – und da kann ich jetzt gezielt ansetzen“, erklärt Miksch.
Beispielsweise mit Medikamenten: Sie lassen die Patienten strukturierter und ruhiger werden. „Ich rege mich nicht mehr so schnell über Kleinigkeiten auf“, berichtet auch Miksch. Der bekannteste Wirkstoff ist Methylphenidat, das beispielsweise in Ritalin steckt. Er erhöht den Spiegel bestimmter Botenstoffe im Gehirn, an denen es den ADHS-Patienten mangelt: Dopamin und Noradrenalin. „Die Patienten werden dadurch strukturierter, ihre Aufmerksamkeit verbessert sich und sie sind insgesamt leistungsfähiger“, erläutert Psychiaterin Sobanski.
Immer auf zu neuen Ufern
Am besten kommt Miksch mit Aufgaben zurecht, die ihn fordern und immer wieder etwas Neues bieten. „Sonst strebe ich neue Ufer an – und zwar mit dem Schnellboot“, sagt er. Mit seinem aktuellen Job als IT-Manager in einer Münchner Werbeagentur ist er sehr zufrieden. Was so manch anderen überfordert, schätzt Miksch besonders – den dauernden Trubel und das hohe Arbeitstempo. „Wenn Menschen mit ADHS ihre Nischen gefunden haben, also das was sie so richtig begeistert, dann können sie sehr erfolgreich sein“, sagt Sobanski. Ob als Künstler, Rettungssanitäter oder Feuerwehrmann. Nur Langeweile und Routine ertragen Menschen mit ADHS schlecht.
Wie gut ein Mensch mit der Störung zurechtkommt, entscheidet sich oft schon in der Kindheit. „Eltern und Lehrer sollten dem Kind vermitteln, dass Selbststrukturierung ein erstrebenswertes Ziel ist“, sagt ADHS-Expertin Sobanski. Und auch das Durchhaltevermögen der Kinder müsse bereits früh trainiert werden. Besonders wichtig sei es, ADHS-Kinder, gerade wenn ihnen etwas schwerer fällt als anderen, auch für kleine Fortschritte zu loben. Sonst resignieren sie irgendwann. Sobanski warnt: „Wer sich als Versager fühlt, steht nicht so leicht wieder auf und schreit Hurra.“
Auch Miksch ist schon häufig gescheitert - heute nimmt er es gelassen: „Wer richtig reiten lernen will, wird auch mal abgeworfen“, sagt er. Fehler seien dazu da, gemacht zu werden – „allerdings am besten nur ein einziges Mal.“