Pädophilie-Interview - „Nicht jeder wird zum Täter“
In Deutschland werden jedes Jahr 12.000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern angezeigt. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. NetDoktor.de sprach mit der Pädophilieexpertin Janina Neutze von der Berliner Charité über Chancen der Prävention und die verzerrte Wahrnehmung potentieller Täter.
Frau Neutze, ein Prozent der männlichen Bevölkerung haben eine pädophile Neigung. Das sind in Deutschland ungefähr 200.000 Männer. Aber nicht jeder von ihnen wird auch zum Täter.
Das ist richtig. Eine pädophile Neigung stellt zwar ein hohes Risiko für sexuelle Übergriffe dar, es muss aber nicht immer zum Missbrauch kommen. Beispielsweise wirken bestimmte Persönlichkeitseigenschaften schützend, andere erhöhen das Risiko. Unter anderem ist wichtig, wie gut jemand mit emotionalen oder stressbeladenen Situationen umgehen kann. Entscheidend ist auch, wie gross die sexuelle Appetenz (Verlangen) ist. Auch eine gering ausgeprägte Opferempathie, also die mangelnde Fähigkeit, sich in sein potenzielles Opfer einzufühlen, ist ein zusätzlicher Risikofaktor.
In der Charité bieten Sie mit dem Projekt "Kein Täter werden" Therapien für Pädophile an. Eine pädophile Neigung lässt sich aber nicht ablegen. Was können sich die Patienten von der Therapie erhoffen?
Wo wir definitiv helfen können, ist die Stärkung der Selbstregulation. Das heisst, die Männer lernen, das eigene Verhalten so zu kontrollieren, dass sie nicht zum Täter werden. Dabei helfen auch Medikamente, die den Sexualtrieb dämpfen. Im Rahmen der Therapie entwickeln die Patienten zudem eine grössere Opferempathie. Und sie legen problematische Einstellungen zum Thema Sex mit Kindern ab.
Die irrige Idee etwa, dass ein Kind durchaus sexuelle Kontakte mit einem Erwachsenen geniessen kann.
Es ist Teil der pädophilen Störung, dass die Männer oft solche Vorstellungen haben. Sie interpretierten beispielsweise auch häufig das Verhalten von Kindern völlig falsch. Sie missverstehen zum Beispiel das ganz normale Zuwendungsbedürfnis eines Kindes, in den Arm genommen zu werden und interpretieren es als Bedürfnis nach sexueller Zuwendung.
Pädophile rechtfertigen ihre Taten häufig mit dem Hinweis, dass Kinder ohnehin eine Sexualität haben, die nur gesellschaftlich unter Bann steht. Dass sie die Kinder gleichsam sexuell befreien.
Definitiv nicht! Kinder haben einen eigenen Weg ihre Sexualität zu entdecken. Sie tun das mit sich selbst und mit Gleichaltrigen, aber sicher nicht mit erwachsenen Männern. Es kann keinen einvernehmlichen Sex zwischen einem Kind und einem Erwachsenen geben.
Für Kinder sind sexuelle Kontakte zu Erwachsene also grundsätzlich zerstörerisch.
Tatsache ist, dass Kinder sich immer in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden. In den meisten Fällen finden sexuelle Delikte im nahen Umfeld statt, das heisst, es gibt eine wie auch immer geartete Vertrauensbeziehung zu dem Erwachsenen. Und dieses Vertrauen wird schamlos ausgenutzt und missbraucht. Die Kinder erleben seelisch einen massiven Vertrauensverlust. Sie erleben Panik, Angst, Scham und Hilflosigkeit. Sie können sich nicht wehren und auch nicht einordnen, was ihnen passiert.
Wo fängt denn der Übergriff an?
Da müssen wir unterscheiden zwischen rechtlichen Definitionen und der klinischen Perspektive. Klinisch gesehen ist jede an einem Kind vorgenommene sexuell motivierte Handlung der Beginn eines Missbrauchs. Das kann schon ein scheinbar väterliches Kopftätscheln sein. Aber die gesetzliche Definition beschränkt sich auf eindeutig sexuelle Handlungen an, vor und mit Kindern. Da würde das Kopftätscheln noch nicht dazu gehören. Denn die sexuelle Motivation muss ich ja jemandem erst einmal nachweisen.
Ist Pädophilie letzten Endes eine Krankheit?
Wir sehen Pädophilie tatsächlich als chronische Erkrankung. Die sexuelle Neigung ist unveränderbar. Pädophile müssen damit leben, dass sie ihr menschliches Grundbedürfnis nach Liebe und sexueller Lusterfüllung nie ausleben dürfen.
Hinzu kommt, dass sie sich niemandem anvertrauen können, weil die Stigmatisierung so stark ist. Jeder Pädophile muss befürchten, von seiner Umwelt abgelehnt zu werden, selbst wenn er noch nie einem Kind etwas getan hat. Der Leidensdruck, der damit einher geht, ist sehr hoch. Die Folgen sind Depressionen, Angststörungen und seelisch bedingte chronische Schmerzerkrankungen.
Frau Neutze, wir danken sehr für das Gespräch.
Das Interview führte Christiane Fux.