Sensationsfund im Gehirn
Das Gehirn galt lange als das einzige Organ, das hermetisch vom Lymphsystem abgeriegelt ist. Zum Schutz vor zirkulierenden Krankheitserregern. Müssen die medizinischen Lehrbücher jetzt neu geschrieben werden?
Ins menschliche Gehirn blickten schon unzählige Wissenschaftler. Sie haben es gewogen, vermessen, zerlegt, Gewebeschnitte unter dem Elektronenmikroskop begutachtet, es mit Hilfe von Ultraschall und Röntgenstrahlung durchleuchtet und ihm schliesslich per Magnetresonanztomografen beim Denken zugesehen.
Sie alle haben Strukturen übersehen, die das Verständnis der Medizin für das Zusammenspiel von Immunsystem und Gehirn auf den Kopf stellen. Dabei schien das menschliche Denkorgan seit Jahrzehnten vollständig kartografiert zu sein. Die Entdeckung könnte das Potenzial haben, das Wissen und den Umgang mit Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose zu revolutionieren.
Gehirn hinter Schranken
Bei den neu entdeckten Strukturen handelt es sich um Ausläufer des Lymphsystems, einem zentralen Bestandteil der Körperabwehr. In jedem Lymphknoten im Körper finden sich unzählige Abwehrzellen. Hier werden Krankheitserreger unschädlich gemacht. An- und Abtransport geschieht über die Lymphgefässe, die wie ein Netz den Körper durchziehen und alle Organe erreichen, nur eben nicht das Gehirn. Glaubte man.
Man stellte sich vor, dass das wertvolle Organ zu seinem Schutz durch eine hermetische Abriegelung von der Lymphflüssigkeit abgeschottet wird. Denn in der tummeln sich Krankheitserreger und Giftstoffe. Man kannte nur eine Austauschpforte: die sogenannte Blut-Hirn-Schranke. Durch sie können aber fast ausschliesslich Nährstoffe, Sauerstoff und Kohlendioxid passieren.
Verborgene Verbindungen
Und nun das: Das Lymphsystem kümmert sich nicht nur um Körperorgane wie Bauch, Leber, Haut und Darm. Feinste Verästelungen reichen offenbar bis ins Denkorgan selbst – eine Sensation. Gefunden hat die Strukturen Antoine Louveau, ein junger Wissenschaftler der University of Virginia School of Medicine. Er ersann ursprünglich eine neue Technik, um die Hirnhäute von Mäusen für Untersuchungen extrahieren zu können, ohne sie zu beschädigen - und stiess dabei auf feinste Lymphgefässe. Wie konnten sie so lange übersehen werden?
„Sie waren ausserordentlich gut versteckt“, erklärt Prof. Jonathan Kipnis, der Leiter des Labors. „Wer nicht genau weiss, was er sucht, übersieht sie ganz einfach.“ Zudem schmiegt sich der Hauptstrang der Gehirnlymphgefässe an eine wichtige Blutbahn, die vom Gehirn in die Nebenhöhlen reicht – ein Areal, das nur schwer einzusehen ist.
Ging man zuvor davon aus, dass das Gehirn nur über Botenstoffe und Nervenreize mit dem Immunsystem kommuniziert, hat man jetzt erstmals eine direkte Verbindung zwischen den beiden Strukturen gefunden. Eine Erkenntnis, die das Verständnis vom Zusammenspiel zwischen Gehirn und Körper revolutioniert.
Neues Verständnis für Krankheiten des Gehirns
„Wir gehen jetzt davon aus, dass die Lymphgefässe im Gehirn eine zentrale Rolle bei allen neurologischen Erkrankungen spielen, die eine immunologische Komponente haben“, sagt Kipnis. Beispielsweise Alzheimer: „Bei dieser Demenzform sammeln sich Proteine im Gehirn an und verklumpen“, erklärt der Wissenschaftler. „Vielleicht ist das der Fall, weil sie nicht effektiv genug über die Lymphgefässe abtransportiert werden können.“ In Zukunft müssten biologische Mechanismen, auf denen Erkrankungen wie Alzheimer, Multipler Sklerose und Parkinson beruhen, völlig neu beleuchtet werden.
Es wartet viel Arbeit auf die Wissenschaftler. Doch mit der Chance auf ein besseres Verständnis dieser unheilbaren Erkrankungen ist die Hoffnung gross, sie eines Tages beherrschen zu können.
Quelle: Antoine Louveau: Structural and functional features of central nervous system lymphatic vessels. Nature, 2015; DOI: 10.1038/nature14432