Rasierklinge

Süchtig nach Schmerz

Von Dr. Varinka Voigt, Psychologin
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Die Rasierklinge als bester Freund – Menschen, die sich selbst verletzen, empfinden Schmerz als Erleichterung. Einer von ihnen war Nadine.

“Tor, Toooor, Tooooooor“, jubelt Nadine* und reisst die Arme in die Luft. Die Bewegung lässt die Ärmel ihres Fussballtrikots nach oben rutschen. Das helle Sonnenlicht enthüllt zahllose Narben.  Wunden, die sich die junge Frau selbst zugefügt hat. „Damals, als ich nicht alle Tassen im Schrank hatte“, sagt sie heute.

Früher: Bei Nadine zu Hause herrscht Krieg. Der Vater jagt das Mädchen durchs Haus, tritt zu, wenn sie am Boden liegt, macht sie psychisch fertig. „Ich war ihm nie gut genug“, erzählt Nadine. Die Mutter sieht weg. Als die Tochter schliesslich auszieht sagt der Vater zu ihr: „Wenn ich dich nie wieder sehen müsste, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.“ Mit 16 fängt sie an zu ritzen und sich Nagelackentferner in die Wunden zu schütten. Selbstverletzendes Verhalten (SVV) nennen Mediziner das.

Verletzte Seelen

Menschen, die sich selbst verletzen, haben oft Schlimmes erlebt: Sie sind vernachlässigt, misshandelt worden – körperlich oder seelisch. „Sie haben traumatische Erfahrungen gemacht, die sie nicht angemessen verarbeiten können“, sagt die Psychologin Kathrin Münz im Gespräch mit NetDoktor. In einer Münchner Suchtklinikbetreut sie auch viele Menschen, die sich selbst verletzen.

Für gesunde Menschen ist so etwas kaum vorstellbar: Selbst zugefügter Schmerz bringt Menschen wie Nadine Entlastung. Er betäubt negative Emotionen, baut innere Spannungen ab, lässt sie vergessen, dass sie sich unattraktiv und wertlos fühlen. Der Schmerz gibt ihnen die Kontrolle über ihre Gefühle zurück. Sie planen, sie zelebrieren die Selbstverletzung. Manche ritzen sich Symbole in die Haut – immer wieder Dreieck über Dreieck.

Nach innen gerichtete Aggression

In Deutschland verletzen sich geschätzt mehr als eine Millionen Jugendliche und junge Erwachsene. Genau wissen es auch die Experten nicht, da viele Betroffene nicht über ihr Verhalten sprechen. Sie ritzen sich mit Klingen, Nägeln, Scherben, giessen sich Säure in die Wunden, schlagen den Kopf gegen die Wand, reissen sich Nägel oder Haare aus. Unter ihnen sind mehr Mädchen als Jungen. Münz erklärt: „Während Männer ihre Aggressionen eher nach aussen kehren, richten Frauen die Wut gegen sich selbst.“

Bei einigen wird der Schmerz zur Sucht:  „Manche verletzen sich zehn Mal am Tag oder öfter – auch immer wieder an den gleichen Stellen. Ich habe schon Narbenschichten bis zu drei Zentimetern gesehen“, erzählt die Psychologin. 

Selbsthass statt Selbstwertgefühl

Selbstverletzendem Verhalten liegt häufig, aber nicht immer, eine psychische  Erkrankung zugrunde. Oft ist das eine sogenannte Borderlinestörung, die durch ein Trauma ausgelöst werden kann. Andere Selbstverletzer haben ausserdem Symptome einer Depression oder leiden unter krankhaften Ängsten. „Die meisten besitzen kaum Selbstwertgefühl, sie empfinden überwiegend Selbsthass“, sagt die Therapeutin. In ihnen toben widersprüchliche Empfindungen, mit denen sie nie gelernt haben umzugehen.

An ihre erste Selbstverletzung kann Nadine sich heute nicht mehr genau erinnern. „Ich habe wohl eine Rasierklinge genommen, angesetzt und losgeschnitten“. Am Anfang hatte sie noch Hemmungen, aber die verschwanden sehr schnell – der Schmerz fühlte sich einfach zu gut an. „Schon der erste Schnitt bringt Erleichterung. Anschliessend war es einfach schön, irgendetwas zu spüren. Und die Kontrolle darüber zu haben.“

Kontrolliertes Selbst

Selbstverletzer beherrschen meist nicht nur den Schmerz, sondern auch ihr Verhalten bei der Arbeit, bei Freizeitaktivitäten und am Essenstisch. Sucht- und Essstörungen sind häufige Begleiter. Auch Nadine hat sich den Finger in den Hals gesteckt, wenn sie glaubte zu viel gegessen zu haben. Dabei war sie dünn wie ein Besenstiel.

Nach ungefähr sechs Jahren hat Nadine mit dem Ritzen aufgehört – „einfach so“, sagt sie. Die junge Frau hat nie eine Therapie gemacht. „Ich gehöre immer noch zu den krassen, den extremen Typen“, meint sie selbst. Heute greift sie zwar nicht mehr zum Messer, wenn ihr bei der Arbeit oder beim Sport etwas misslingt. Aber noch immer sucht sie bewusst nach Schmerzsituationen: Sie rennt buchstäblich bis zum Erbrechen. In einer Therapie hätte sie lernen können, Alternativen für ihr selbstzerstörerisches Verhalten zu finden – einen liebevolleren, nachsichtigeren Zugang zu sich selbst zu finden.

Letztens fand sie eine alte Rasierklinge und schmiss sie einfach weg. Selbst wenn sie sich die Beine rasiert oder ein Messer in der sommersprossigen Hand hält, ist der Impuls, sich zu ritzen, erloschen. Zumindest diese Folge ihrer problematischen Kindheit hat sie überwunden..

*Name wurde durch die Redaktion verändert.

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