Frau mit Depressionen wird von ihrem Freund in den Arm genommen

Seelische Erkrankungen: Die Kraft der Angehörigen

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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Ob Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenien: Meist treten seelische Krankheiten nicht mit einem Paukenschlag auf. Sie sickern still und langsam ins Leben der Betroffenen – und bleiben oft lange unerkannt. Kein Röntgenbild, kein Laborwert, kein Fieber belegt: Der Mensch, dem es psychisch schlecht geht, ist krank.

Krankheit ist keine Schwäche

„Für die Betroffenen selbst ist es daher schwierig, ihr Leid als Erkrankung zu akzeptieren“, erklärt Prof. Arno Deister im Gespräch mit NetDoktor. Der Psychiater ist Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin des Klinikums Itzehoe und arbeitet seit vier Jahrzehnten mit psychisch erkrankten Menschen.

„Manche versuchen lange, eine Fassade aufrechtzuerhalten“, so Deister. Sie litten unter Scham- und Schuldgefühlen, wenn sie nicht mehr so funktionierten wie gewohnt, täten alles, damit niemand bemerke, wie es ihnen geht.

Noch schwerer fällt es oft den Angehörigen zu erkennen, dass ihr Partner, die Freundin, das eigene Kind unter einer psychischen Erkrankung leidet. „Das braucht oft einige Zeit - aber das kann man niemandem vorwerfen. Es liegt daran, wie wir mit psychischen Erkrankungen umgehen“, so der Psychiater, der auch Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit ist.

Mit einem gebrochenen Bein kann man nicht laufen

„Da kommen dann schon mal Worte wie: Reiss dich doch ein bisschen zusammen“, berichtet Deister. Das Problem ist: Psychische Erkrankungen kann man nicht mit reiner Willenskraft besiegen. „Auch ein Patient mit einem gebrochenen Bein läuft nicht deshalb nicht, weil er nicht will, sondern weil er nicht kann.“ Und so wie gebrochene Gliedmassen nur heilen, wenn man sie schient und anständig versorgt, brauchen psychisch Erkrankte eine adäquate Behandlung, um zu genesen.

Der erste Schritt dafür ist Offenheit: Entscheidend ist, das Problem klar anzusprechen – den Elefanten im Raum nicht länger zu ignorieren. Leicht ist das nicht, denn psychische Erkrankungen sind noch immer ein Tabu. „Dinge, die wir nicht sehen können, begreifen wir nur schwer - das macht uns Angst“, sagt Deister.

Über den Elefanten im Raum sprechen

Viele Angehörige erlebten dann aber, dass sie bei den Betroffenen offene Türen einrennen, berichtet der Psychiater. Oft sei die Erleichterung der Betroffenen gross, wenn ihre Nöte gesehen und ernst genommen würden, wenn sie mit jemandem darüber sprechen könnten.

Manchmal müsse man auch Brücken bauen: „Männer mit Depressionen haben beispielsweise grosse Schwierigkeiten, zu ihrer Krankheit zu stehen, weil sie nicht ins eigene Rollenbild passt. Dann ist es wichtig zu zeigen: Das ist keine Schwäche, sondern eine Erkrankung.“

„Gute Freunde halten oft durch“

Auch bei anderen Betroffenen ist die Hemmschwelle hoch: Die Furcht, sich zu offenbaren, entspringt oft der Angst, verlassen zu werden. Tatsächlich ziehen sich lockere Bekanntschaften in einer solchen Phase häufig zurück – das Netzwerk wird kleiner. Aber: „Funktionierende Partnerschaften bleiben meist bestehen, und auch gute Freunde halten sehr oft durch“, beruhigt Deister.

„Ich bleibe an deiner Seite, ich unterstütze dich“, sei daher eine wichtige Botschaft für Erkrankte. Ebenso wichtig sei es aber auch, klar zu machen, dass der Betroffene Verantwortung für seine Krankheit übernehmen und professionelle Hilfe annehmen muss.

Das einzufordern, ist ein gutes Recht der Angehörigen. Denn auch sie leiden gravierend unter der Situation - mitunter sogar mehr als der Betroffene selbst.

Da ist der Partner, der im Schneckenhaus seiner Depression gefangen ist, freudlos und gefühlskalt wirkt. Da ist die Mitbewohnerin, die in einer manischen Phase vielleicht das gemeinsame Haushaltsgeld verpulvert und jeden Abend eine Party schmeisst. Oder der beste Freund, der überzeugt ist, Ausserirdische hätten ihm einen Sender unter die Haut transplantiert und man selbst habe sich mit ihnen verbündet.

Böse Worte oft Ausdruck der Krankheit

Wichtig für Angehörige ist, die teils verletzenden Verhaltensweisen eines psychisch Erkrankten als Teil der Krankheit zu begreifen. „Wenn böse Worte fallen, denken die Angehörigen: ‚Jetzt sagt er endlich mal die Wahrheit. Jetzt weiss ich, was er wirklich von mir denkt!‘ Das ist aber falsch!“, erklärt Deister. Was jemand während der Krankheit sagt und wie er sich verhält, sei durch sein Krankheitserleben geprägt. „Das sind Krankheitsphänomene, die sich über die Person stülpen.“

Auch Äusserungen wie: „Kümmert euch nicht um mich, lebt euer Leben. Ich muss allein klarkommen“, entspringen dann nicht dem Vertrauen in die eigene Kraft, sondern weil die Betroffenen ihre Angehörigen schützen und ihnen nicht zur Last fallen wollen.

Konkrete Hilfe anbieten

Unterstützen können Angehörige einem Betroffenen nicht nur, indem sie ihm zuhören und ihn bestärken, sich in professionelle Behandlung zu begeben, sondern auch durch ganz praktische Hilfe. Denn die zu finden, verlangt leider oft einiges an Ausdauer und Hartnäckigkeit, die die Kranken selbst oft nicht aufbringen. Da gilt es Termine mit Hausarzt oder Psychiater zu vereinbaren, Listen mit mit möglichen Therapeuten abzutelefonieren, den Betroffenen notfalls zum Termin zu chauffieren.

Bei allem Engagement sollten Angehörige sich aber nicht selbst zum Therapeuten machen: „Man muss rechtzeitig erkennen, dass man unterstützen, aber das Problem nicht lösen kann.“ Auch solle man nicht in die Falle tappen, sich zum stillen Co-Patienten zu machen, der ungewollt die Krankheitsmuster unterstützt.

Was tun, wenn die Krankheitseinsicht fehlt?

„Wenn jemand nicht die Einsicht hat, krank zu sein, wird man ihn nicht überzeugen können, Hilfe zu suchen“, warnt Deister. Das gelte insbesondere bei psychotischen Erkrankungen, bei denen die Betroffenen in einem Wahnsystem leben. In einzelnen schweren Fällen müssten die Angehörigen dann die Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass der Betroffene notfalls auch gegen seinen Willen behandelt wird, weil man ihn anders nicht schützen kann.

Und dann gibt es auch noch die Fälle, in denen der Betroffene schlicht nicht bereit ist, sich helfen zu lassen. „Dann muss man sich trennen und gehen. Das ist dann sehr traurig, aber dann ist es manchmal so“, sagt der Psychiater.

Oberstes Gebot: Auch auf sich selbst achten

Sein Rat an alle Angehörigen: „Achtet auf euch selbst und holt euch im Zweifel Hilfe!“ Sich aufzuopfern, funktioniert auf Dauer nicht. Kraft tanken in der Begegnung mit psychisch gesunden Menschen, Hobbies pflegen, sich Freiräume schaffen – das sind Voraussetzungen, um nicht selbst krank zu werden.

Hilfreich kann es auch sein, sich angesichts der Belastung selbst eine therapeutische Unterstützung zu suchen. Insbesondere aber gibt der Austausch mit anderen Angehörigen Kraft – und das sind viele.

Jeder vierte bis fünfte Mensch ist von einer psychischen Erkrankung betroffen. Und da den meisten Betroffenen nicht nur eine Person nahesteht, ist das Heer der Angehörigen weit grösser. Daher gibt es fast überall Selbsthilfegruppen für Angehörige von Patienten verschiedenster seelischer Erkrankungen - von Sucht über Depressionen bis zu Schizophrenie.

Dramatisch verbesserte Hilfsmöglichkeiten

Die gute Nachricht für Erkrankte wie Angehörige ist: Die meisten seelischen Erkrankungen lassen sich inzwischen sehr gut behandeln - wenn auch nicht immer vollständig heilen.

Deister hat vor 40 Jahren seine Arbeit als Psychiater begonnen. „Seither haben sich die Behandlungsmöglichkeiten dramatisch verbessert“, berichtet er. Das gelte auch für Medikamente, aber noch viel mehr für psychotherapeutische und psychosoziale Massnahmen. „Das ist gar nicht mehr vergleichbar: Die Hilfsmöglichkeiten sind heute unendlich viel besser.“

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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