Leeres Krankenhaus

Schlaganfall: Die Angst der Kranken vor dem Virus

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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In deutschen „Stroke Units“ herrscht derzeit ungewohnte Ruhe. Leider ist das kein gutes Zeichen: Die Deutschen erleiden derzeit wohl nicht seltener Schlaganfälle als gewöhnlich, viele trauen sich nur nicht mehr ins Krankenhaus. Es ist die Angst, sich mit dem Coronavirus anzustecken, die sie zögern lässt.

„Anfang März bis in die erste Maiwoche gab es einen dramatischen Rückgang an Schlaganfallpatienten, die zu uns gekommen sind“, bestätigt Prof. Christian Gerloff vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf im Gespräch mit NetDoktor. „Diese Tendenz kennen wir auch aus Studien in New York.“

Wer zögert, riskiert Behinderung und Tod

Derzeit neigten mehr Patienten dazu, abzuwarten. „Sie hoffen, dass sich die Symptome wieder von alleine bessern. Die kommen dann erst am nächsten oder übernächsten Tag“, so der Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie. Solche Patienten hätten vor vier Monaten gleich die 112 gewählt. „Die Angst ist ja menschlich und verständlich. Aber es gibt Notfälle, die nicht auf die Zeit nach der Pandemie warten können“, so Gerloff.

Gerade bei Schlaganfällen ist Zögern besonders fatal: Der Zeitpunkt der Therapie entscheidet über Leben und Tod, über weitgehende Erholung oder schwere Behinderung. „Im Moment haben wir schon die Sorge, dass schwere Verläufe als Nebenwirkung von Angst und Panik wieder zunehmen.“

Jede Minute zählt

Jede Minute kann einen erheblichen Unterschied bedeuten. Denn sind Hirnbereiche mit Sauerstoff unterversorgt, sterben die Nervenzellen unwiderruflich ab. Die konkrete Sorge davor sollte grösser sein als die Angst vor dem Virus. Doch sie ist es häufig nicht.

„Optimalerweise haben wir die Patienten sofort nach Symptombeginn bei uns – am meisten helfen können wir in den ersten ein bis drei Stunden“, sagt Gerloff. Denn nach viereinhalb Stunden schliesst sich das Zeitfenster für die sogenannte Thrombolyse: Spezielle Medikamente lösen das Blutgerinnsel auf, das das Gefäss verschliesst. Auch ein Eingriff per Katheter, der den Propfen entfernt, kommt irgendwann zu spät, um irreparable Hirnschäden zu verhindern.

Kurze Attacken ernst nehmen

Noch zögerlicher wählen derzeit Patienten den Notruf, die eine sogenannte transitorische ischämische Attacke (TIA) erleben. Dabei verschliesst sich ein Gefäss nur kurzfristig. „Das körpereigene System löst solche Gerinnsel mitunter wieder auf, dann kommt die Funktion ziemlich prompt zurück. Der Patient denkt dann, es ist alles ist wieder okay“, sagt Gerloff. Doch diese Annahme ist trügerisch. „So eine Attacke ist ein Schuss vor den Bug.“ Häufig ist sie der Vorbote eines schweren Schlaganfalls.

„Wir werben schon lange dafür, dass man solche Attacken ernst nehmen muss“, sagt der Mediziner. Nur wenn man die Ursache feststellt, kann man gegensteuern. Beispielsweise kann die innere Gefässwand an einer bestimmten Stelle lädiert sein, sodass sich hier schnell wieder ein Thrombus bildet. Oder eine Halsschlagader ist kritisch verengt. Oder der Betroffene leidet unwissentlich unter Vorhofflimmern, einer vor allem im fortgeschrittenen Alter verbreiteten Herzrhythmusstörung. „Das kann man alles behandeln und so einen Schlaganfall verhindern. Dafür muss man aber erstmal die Gründe zackig herauskriegen.“

Wie die Klinik ihre Patienten schützt

Gegen die Angst hilft Information. Beispielsweise darüber, wie die Kliniken sich in Pandemiezeiten zum Schutz der Patienten aufgestellt haben. Das weitläufige Gelände des Universitätskrankenhauses im Hamburg Eppendorf etwa ist seit Wochen von Sicherheitspersonal abgeschottet. „Ins UKE kommt keiner rein, der hier nichts verloren hat“, berichtet Gerloff.

Jeder aufgenommene Patient wird per Rachenabstrich auf Sars-CoV-2 getestet. „Das gilt auch in der Notaufnahme“, so der Neurologe. Dann sei meist noch am selben Tag klar, ob von dem Patienten eine Ansteckungsgefahr ausgeht. Im Falle einer Sars-CoV-2-Infektion werde ein Schlaganfallpatient nicht in der normalen Stoke Unit behandelt, sondern unter isolierten Bedingungen. „Das Schlaganfall-Team versorgt ihn dann mit seiner ganzen Kompetenz, aber unter Vorkehrung aller Schutzmassnahmen.“

100 Prozent Sicherheit gibt es nicht

Fest steht aber auch: „Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit, da muss man sich nichts vormachen“, so Gerloff. Ein Rachenabstrich könne zu Beginn der Infektion noch unauffällig ausfallen, obwohl der Patient Tage später infektiös ist. Bislang habe es beispielsweise unter den 70 Ärzten der Neurologie aber nur einen einzelnen, leichten Fall von Covid-19 gegeben.

„Der grosse Unterschied zu Italien, Spanien oder New York war, dass wir genug Zeit hatten. Wir konnten relativ grosse Ressourcen aufbauen, bevor es richtig losging“, sagt Gerloff. Auch die Zustände vor Ort spielten eine Rolle: Läuft alles in einigermassen geregelten Bahnen, könne man sich etwa darauf konzentrieren, Schutzkleidung und Schutzmaske richtig anzulegen. Dann sei das Ansteckungsrisiko für den Einzelnen gering. „Aber wenn man das Ganze im völligen Chaos machen muss und man nicht genug Schutzausrüstung hat, dann steigt das Risiko erheblich.“ Und zwar für den Behandler ebenso wie für die Patienten.

Schrittweise Rückkehr zur Normalität

Da die Patientenzahlen in Deutschland bislang nicht bedrohlich eskaliert sind, werden die freigehaltenen Betten auch wieder neurologisch Erkrankten zugänglich gemacht, die man zuvor vertrösten musste. Zum Beispiel schwerkranken Parkinsonpatienten, die zu Hause nicht mehr klarkommen.

Mit der zunehmenden Öffnung in der Gesellschaft kehrt jetzt auch das Gefühl von Normalität zurück. Die Verunsicherung durch den Ausnahmezustand lässt nach. Das spürt man auch in der Eppendorfer Schlagfall-Unit: „Die Patienten melden sich wieder spontaner, wenn sie Schlaganfallsymptome haben. Es wird wieder besser.“ Ungeachtet dessen, wie sich die Corona-Pandemie entwickelt, gilt auch in Zukunft: Abwarten bei einem Schlaganfall ist die schlechteste Option.

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Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

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