Bunte Pillen fallen aus einer Pillendose

Placebo: Die Macht der Erwartung

Von , Medizinredakteurin
Christiane Fux

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Alle NetDoktor.ch-Inhalte werden von medizinischen Fachjournalisten überprüft.

Der Placeboeffekt ist keine Einbildung: Vielmehr kommt dabei die körpereigene Apotheke zum Einsatz. Wie lässt sich das steuern, und was hat es mit dem negativen Nocebo-Effekt auf sich?

Teure Medikamente wirken besser als günstigere, auch wenn sie exakt dieselben Inhaltsstoffe enthalten. Wenn Mutter oder Vater aufs aufgeschlagene Knie pusten, tut es weniger weh. Wer unwissentlich eine Arznei bekommt, bei dem ist sie weniger wirksam. All das sind Beispiele für ein fasziniertes Phänomen: den Placeboeffekt.

Denn wie wirksam ein Medikament Schmerzen lindert, wie gut sich ein Kranker nach einer Herz-Operation erholt, das alles hängt stark davon ab, welche Erwartungen der Patient an die Wirksamkeit der Behandlung hat.

Kochsalzlösung statt Morphium

Wissenschaftlich untersucht wurde der Placeboeffekt erstmals von dem US-Militärarzt Henry Beech. Als ihm in einem Lazarett des Zweiten Weltkriegs die Schmerzmittel ausgehen, spritzte er den schwer verwundeten Soldaten in seiner Verzweiflung Kochsalzlösung, erzählte ihnen aber, es sei Morphin. Zu seinem Erstaunen half das simple Gemisch aus Wasser und Natriumchlorid: Die Schmerzen der Soldaten liessen erheblich nach.

Der Placeboeffekt wird oft als reine Einbildung missverstanden - was einen schalen Beigeschmack hat. Schwingt dabei doch mit, dass auch die Beschwerden hauptsächlich eingebildet sind - oder auch deren Linderung.

Der Körper hat seine eigene Apotheke

Tatsächlich aber ist es eine körpereigene Apotheke, die dabei eindrucksvoll ihre Wirkung entfaltet: „Beim Placeboeffekt laufen sehr komplexe neuronale Prozesse ab“, erklärt Prof. Ulrike Bingel von der Klinik für Neurologie der Universitätsklinik Essen auf der Internationalen Konferenz der Society for Interdiciplinary Placebo Studies (SIPS) am 10. Mai in Duisburg.

Der Körper mobilisiert dann beispielsweise seine körpereigene Schmerzbremse, eine Mixtur aus Botenstoffen wie Endorphinen, Opioiden und Cannabinoiden. „Diese Wirkungen existieren, sie sind mit messbaren, nicht imaginären Effekten verbunden“, sagt die Placebo-Forscherin.

Placebowirkung lässt sich im Gehirn beobachten

Inzwischen ist man nicht mehr nur auf die subjektiven Berichte der Patientinnen und Patienten für die Wirksamkeit von Placebos angewiesen, man kann diese bei der Arbeit sehen: Im Magnetresonanztomographen lässt sich beobachten, wie unter Placebo-Einfluss an der Schmerzverarbeitung beteiligte Strukturen im Gehirn aktiv werden, im Blut kann man entsprechende Botenstoffe nachweisen.

„Allein das Wissen, dass man ein Medikament bekommt, kann die Wirkung verdoppeln“, sagt Bingel. Nachgewiesen hat man das beispielsweise in Studien, in denen Migränepatientinnen und -Patienten entweder ein Migränemedikament verabreicht bekamen oder ein Placebo.

Der Placeboeffekt ist so stark, dass er mehr zur Linderung der Beschwerden beitragen kann als der eigentliche Wirkstoff.

Medikamente müssen besser wirken als der Placeboeffekt

Für ihre Zulassung müssen Medikamente daher in doppelt verblindeten Studien beweisen, dass sie dem reinen Placeboeffekt überlegen sind. Doppelt verblindet bedeutet: Weder die behandelnden Ärztinnen und Ärzte noch die Probanden wissen, ob sie den Wirkstoff oder ein Placebo erhalten.

Denn auch die Erwartungshaltung der Mediziner beeinflusst den Placeboeffekt beim Patienten. Es sei nicht Placebo, das wirke, sondern die Erwartung oder die Erfahrung, die man habe, erklärt Bingel.

„Der Erfolg einer Therapie setzt sich aus der Kombination von pharmakologisch wirksamen Medikamenten plus dem Erwartungseffekt zusammen. Wir wollen darum beides bestmöglich ausschöpfen“, sagt Bingel.

Vertrauen in die Wirksamkeit stärken

Besonders gut sprechen Menschen mit Schmerzen oder Depressionen auf Placebos an. Aber auch in Magen und Darm, im Herz-Kreislauf- und Immunsystem sowie bei der Wundheilung entfalten Placeboeffekte ihre Wirkung. „Es gibt kein Körpersystem, das nicht auf Placebos reagiert, wenn auch unterschiedlich stark“, sagt die Wissenschaftlerin. Entscheidend sei aber immer das Vertrauen, das der Patient oder die Patientin in den Erfolg einer Behandlung setze.

Hat eine Person jedoch einmal ungute Erfahrungen mit einer konkreten Therapie oder ganz allgemein mit medizinischen Behandlungen gemacht, wird sie weniger Vertrauen haben und entsprechend weniger von der Wirkung profitieren. Auch, ob jemand grundsätzlich eher optimistisch oder pessimistisch auf die Welt blickt, ist entscheidend.

Offene Fragen der Placeboforschung

Bingel ist Mitglied im „Kompetenznetzwerk Placebo“, einem internationalen Zusammenschluss von Forschern, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigen. Auch wenn man in den letzten Jahrzehnten viel über den Placeboeffekt gelernt hat – es bleiben doch viele offene Fragen.

Was passiert jenseits der Schmerzregulierung genau im Körper? Warum sind Placeboeffekte von Patient zu Patient, von Situation zu Situation, von Organsystem zu Organsystem so unterschiedlich? Und vor allem: Was genau kann man tun, um bei Patientinnen und Patienten eine positive Erwartungshaltung zu fördern?

Genau das erforscht der klinische Psychologe Prof. Winfried Rief von der Universität Marburg. Eine zentrale Rolle seiner Forschung: Wie können Ärztinnen und Ärzte den Placeboeffekt unterstützen?

Ein wesentlicher Faktor ist die zwischenmenschliche Komponente: Wenn Ärzte eine warme, zugewandte und beruhigende Haltung einnehmen, beeinflussen sie den Genesungsverlauf ihrer Patienten positiv. Wer formell und kühl auftritt, bewirkt eher das Gegenteil.

Kommunikationstraining mit dem Avatar

Üben lässt sich Placebo-förderliche Arzt-Patienten-Kommunikation bald virtuell: Dazu werden inzwischen digitale Schulungsmöglichkeiten für Ärzte entwickelt. Mit einer Taucherbrillen-artigen Virtual Reality-Brille auf der Nase tritt der Arzt oder die Ärztin dann einem Avatar als Sparringspartner gegenüber, mit dem er oder sie ein empathisches Patientengespräch einübt. Der gibt anschliessend Feedback zum Kommunikationsverhalten.

Neben den sozialen Aspekten kommt es aber auch auf die Inhalte an. Hilfreich ist zu wissen, wie ein Medikament im Gehirn und Körper genau wirkt – und auch, wie der Placeboeffekt zustande kommt. Das ist insbesondere bei Menschen mit chronischen und schweren Erkrankungen entscheidend.

Mehraufwand, der sich auszahlt

All diese Massnahmen bedeuten natürlich zunächst einigen Mehraufwand – dürften sich aber mehr als auszahlen. „Wir wissen, dass Menschen, die einer Behandlung eher ängstlich entgegensehen, weniger von dieser profitieren“, erklärt Rief. Und diese Menschen genesen weniger schnell oder weniger gut – und benötigen im Endeffekt mehr medizinische Hilfe.

Rosige Perspektiven

Rief berichtet von Studien, in denen Herzpatienten „geistige Landkarten“ zu einer positiv verlaufenden Genesungszeit entwickeln – welche Fähigkeiten sie zurückgewinnen, welche Perspektiven sich wieder eröffnen: beispielsweise die lang ersehnte Italienreise mit Freunden. Sechs Monate nach der Herzoperation geht es derart positiv eingestimmten Patienten besser als Personen ohne geistige Landkarten. „Und sie stehen auch wieder mehr im Leben“, berichtet Rief.

„Die ärztliche Behandlung kann ein Puffer sein, sie kann Nebenwirkungen verhindern“, sagt auch seine Kollegin Bingel.

Sprechende Medizin stärken

Damit dies möglichst vielen Erkrankten zugute kommt, wäre eine Umpriorisierung nötig, damit die sogenannte sprechende Medizin stärker berücksichtigt und besser entlohnt wird. Auch wenig kann schon viel bewirken. Eine Ärztin, die sitzt und ihrem Patienten im Gespräch in die Augen schaut, löst ganz andere Empfindungen aus als ein Arzt, der während des Gesprächs in den Computer schaut oder stehend gleichsam schon wieder auf dem Absprung ist.

Erkrankte können aber auch von sich aus aktiv werden – und entsprechende Gespräche einfordern. Sie können zudem gezielt nach hoffnungsvoll stimmenden Informationen suchen. „Es hilft, sich mit Menschen zu unterhalten, die mit genau dieser Therapie positive Erfahrungen gemacht oder die gleiche Krankheit gemeistert haben“, erklärt Rief.

Nocebo: Wenn negative Erwartungen krank machen

Vor allem gilt es auch, den umgekehrten Effekt zu vermeiden: Wer sich mit negativen Berichten vollpumpt, entwickelt häufiger entsprechende Nebenwirkungen und hat ein höheres Risiko für ungünstige Krankheitsverläufe. Dann nämlich ist der Nocebo-Effekt am Werk – gewissermassen der dunkle Zwilling der Placebo-Wirkung.

Für die Behandelnden ergibt sich daraus ein Dilemma: Einerseits wollen und müssen sie auch über Risiken und Nebenwirkungen aufklären, andererseits befeuern sie diese damit. Die beste Lösung ist dann „positives Framing“. Das bedeutet, die Fakten in einen positiven Fokus zu rücken. Statt zu sagen „Zehn Prozent der Behandelten entwickeln Kopfschmerzen oder Übelkeit“ sagt man besser „90 Prozent vertragen das Medikament gut“.

Mehr Nebenwirkungen durch Beipackzettel

Mögliche Nebenwirkungen sollte man sich daher auch besser von seinem Arzt oder seiner Ärztin erklären und einordnen lassen, statt sie akribisch im Beipackzettel zu studieren, empfiehlt Bingel. Für Einnahmeempfehlung, Dosierung und Lagerung sei die Packungsbeilage wichtig - „der Rest sind drei Seiten lang Tod und Verderben“.

Das Abfedern vom Noceboeffekt könnte Placebo-Expertin Bingel zufolge sogar von grösserer Bedeutung für Therapiewirksamkeit und Genesung sein als die Förderung von Placeboeffekten.

Soziale Medien fördern Noceboeffekte

Sorge bereitet den Forschenden vor diesem Hintergrund, dass die Algorithmen Sozialer Medien katastrophisierende Berichte und Fakenews bevorzugt nach oben spülen.

In der Covid-19-Pandemie ist das besonders deutlich geworden. So zeigt eine Untersuchung der University of Toledo, dass Personen, die mehr Zeit in den sozialen Medien verbrachten, insgesamt mehr Nebenwirkungen nach ihrer Corona-Impfung beobachteten.

Impfangst per Twitter

Auch der umtriebige Multimilliardär Elon Musk hat nach einer Impfung einen Twitter-Post abgesetzt, der so manchem seiner Follower unnötige Nebenwirkungen beschert habe oder ihn sogar vom Impfen abgehalten haben dürfte: „Hatte nach meiner zweiten Booster-Impfung gravierende Nebeneffekte. Fühlte mich einige Tage, als ob ich sterben würde. Hoffentlich gibt es keine bleibenden Schäden, aber ich bin mir nicht sicher.“ Aktuell folgen ihm auf Twitter 133 Millionen Menschen.

Autoren- & Quelleninformationen

Jetzt einblenden
Datum :
Autor:

Christiane Fux studierte in Hamburg Journalismus und Psychologie. Seit 2001 schreibt die erfahrene Medizinredakteurin Magazinartikel, Nachrichten und Sachtexte zu allen denkbaren Gesundheitsthemen. Neben ihrer Arbeit für NetDoktor ist Christiane Fux auch in der Prosa unterwegs. 2012 erschien ihr erster Krimi, außerdem schreibt, entwirft und verlegt sie ihre eigenen Krimispiele.

Quellen:
  • Kelly S. Clemens et al.: Social communication pathways to COVID-19 vaccine side-effect expectations and experience, Journal of Psychosomatic Research, Volume 164, January 2023, doi:10.1016/j.jpsychores.2022.111081
Teilen Sie Ihre Meinung mit uns
Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie NetDoktor einem Freund oder Kollegen empfehlen?
Mit einem Klick beantworten
  • 0
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
  • 6
  • 7
  • 8
  • 9
  • 10
0 - sehr unwahrscheinlich
10 - sehr wahrscheinlich