Kostbare Stunden der Freiheit
Jaufenpass, Timmelsjoch, Penser Joch - die höchsten Passstrassen der Alpen hat Wolfgang Bornemann aus eigener Kraft bezwungen. Im Fahrradsattel kann er seiner Krankheit ein Schnippchen schlagen. Wolfgang Bornemann leidet an Parkinson
Es gibt Tage, an denen kosten schon die paar Meter bis zur Garage viel Kraft und Geduld. In mühsamen Trippelschritten muss sich Wolfgang Bornemann dann den kurzen Weg von der Haustür zu seinem silbern glänzenden Tourenrad erkämpfen. Menschen mit Parkinson sind manchmal wie erstarrt. Vor allem in den sogenannten Off-Phasen können sie sich kaum bewegen, das Sprechen fällt schwer, die Gesichtszüge sind wie eingefroren.
Doch wenn der 59-Jährige dann auf sein Rad steigt und losfährt, scheint es, als gebe es die Krankheit nicht. Als habe er nicht schon vor 19 Jahren von seinem Arzt die niederschmetternde Diagnose erhalten. "Auf dem Rad sind alle Einschränkungen sofort verschwunden", erzählt Bornemann im Gespräch mit NetDoktor. "Ich kann in die Pedale treten wie jeder andere auch, sicher lenken, bremsen, sogar sprechen." Allerdings nur, solange er fährt. "Wenn ich vom Rad steige, sind die Symptome sofort wieder da.“
Gestörte Feinabstimmung
Mehr als zwölf Jahre dauerte es, bis Bornemann die wundersame Heilung auf Zeit entdeckte. Die Beobachtung machte ihm Mut, das in den vergangenen Jahren nur noch sporadisch genutzte Zweirad zum Sportgerät aufzuwerten. Dreimal pro Woche steigt der Niedersachse aufs Rad und trainiert, zwischen 2.000 und 3.000 Kilometer kommen so jedes Jahr zusammen. Halb Deutschland hat Bornemann schon per Fahrrad erkundet, fast jeden Sommer einmal die Alpen überquert. Im Winter weicht er auf ein Ergometer aus - kostbare Stunden ohne "Parki", wie er die Krankheit nennt. „Ich weiss nicht, warum Parkinson mir in diese Nische nicht folgen kann."
Mit 40 Jahren war Wolfgang Bornemann ungewöhnlich jung, als die Ärzte bei ihm die Diagnose Parkinson stellten. Die meisten Patienten erkranken erst nach dem 50. Lebensjahr, zwischen sieben und zehn Millionen Menschen weltweit sind betroffen, schätzen Forscher. Bei Morbus Parkinson funktioniert die Feinabstimmung willkürlicher Bewegungen nicht mehr richtig. Nervenzellen, die den Hirnbotenstoff Dopamin bilden, sterben ab.
Das sogenannte extrapyramidale System kann dann die Zusammenarbeit der verschiedenen Muskelgruppen und die von dort kommenden Rückmeldungen nicht mehr richtig koordinieren. Die Behandlung zielt deshalb vor allem auf diesen Mechanismus: die ersatzweise Zufuhr von Dopamin und eine höhere Empfindlichkeit für den Botenstoff. Doch was die Krankheit auslöst und warum sie manche Menschen so früh trifft, ist nicht bekannt. Die Parkinsonforschung steht immer noch am Anfang.
Wie ratternde Zahnräder
Der Niederländer Professor Bastiaan Bloem im niederländischen Nimwegen gehört zu den führenden Parkinsonforschern weltweit. Einer seiner Patienten - ein Mann mit stark fortgeschrittenem Parkinson, der kaum noch gehen konnte, aber ohne Probleme Rad fuhr - brachte ihn vor einigen Jahren mit einer Demonstration seiner Fähigkeiten zum Staunen.
Warum verlieren Parkinsonkranke auf dem Rad schlagartig ihre Symptome - die stockenden, dann wieder überschiessenden Bewegungen, die oft an ratternde Zahnräder grosser, alter Maschinen erinnern? Warum werden die verkrampften Muskeln auf dem Rad plötzlich weich, die Bewegungen rund und flüssig?
Bloem vermutet, dass für das Radfahren andere Hirnteile zuständig sind als für das Gehen. Sport kann ausserdem neue Dopaminverbindungen im Gehirn schaffen, fand er heraus. Zumindest im Tierversuch war das so. Doch kann das allein bereits erklären, warum sich auch der verkrampfte Unterkiefer löst, die Zunge beweglicher wird, die Sprache wieder funktioniert? So wie bei Wolfgang Bornemann?
Hirnregionen kommunizieren wieder
Jetzt haben Forscher im US-amerikanischen Cleveland (Ohio) etwas Interessantes entdeckt: Mit einem speziellen Kernspintomografie-Verfahren bestimmten sie den Sauerstoffverbrauch im Gehirn ihrer parkinsonkranken Patienten, während diese auf dem Ergometer strampelten. Dabei entdeckten sie, dass für die Bewegungsausführung wichtige Hirnteile in der Grosshirnrinde (Bewegungsplanung) und im Thalamus (Bewegungssteuerung) wieder stärker miteinander kommunizierten, wenn ihre Probanden in die Pedale traten.
Bei der Parkinsonkrankheit ist die Kommunikation zwischen diesen Arealen unterbrochen. "Doch sobald unsere Patienten auf dem Rad sassen, begannen Grosshirnrinde und Thalamus, ihre Aktivitäten wieder besser zu synchronisieren. Das konnten wir am identischen Rhythmus im Sauerstoffverbrauch erkennen", sagt Studienleiter Dr. Chintan Shah im NetDoktor-Gespräch. "Der Effekt war umso stärker, je höher die Trittfrequenz der Patienten war."
Die Forscher beobachteten noch etwas anderes, das Hoffnung macht: Die positiven Effekte überdauerten das Training deutlich. Noch vier Wochen später konnten sie eine verbesserte Kommunikation zwischen motorischer Hirnrinde und Thalamus nachweisen. "Trotzdem können wir heute noch nicht sagen, ob Radfahren den Krankheitsverlauf langfristig bremsen oder sogar rückgängig machen kann", sagt Shah. Das soll jetzt eine weitere Studie zeigen, in der die Patienten über sechs Monate auf Ergometern zuhause trainieren.
Tanz auf der Rüttelplatte
Radfahren als Therapie? Auch Wolfgang Bornemann war schon diverse Male Objekt wissenschaftlicher Beobachtungen. Gemeinsam mit seinem Freund Jürgen Weber erkletterte er im Sommer 2010 die 1.900 Meter hohen Passstrasse zum Hahntennjoch, Parkinsonforscher Bloem und das Bayerische Fernsehen begleiteten die beiden. Derzeit testet der ehemalige IT-Fachmann gemeinsam mit seinem Neurologen einen Apparat, mit dem alpine Skisportler der Nationalmannschaft ihr Gleichgewicht verbessern: den sogenannten Zeptor.
Unrhythmisch wackelt und tanzt die Rüttelplatte des Trainingsgeräts in allen Ebenen und zwingt den auf ihr balancierenden Sportler zu ständigen Korrekturbewegungen - für die träge Motorik eines Parkinsonkranken eine ganz besondere Herausforderung. Doch "die Sache funktioniert", ist Bornemann überzeugt. "Das Gerät hat mir geholfen, auch in den rasenden Abfahrten der Alpen die Kontrolle über das Rad zu behalten." Oder wenn es so steil bergauf ging, die Pedale sich trotz aller Anstrengung so langsam drehten, dass der sportliche 59-Jährige und sein "Parki" über die halbe Strassenbreite schlingerten.
Suche nach neuen Zielen
Trotz seiner Fitness, die manchem weit jüngeren Sportkollegen Beine und Lunge brennen lässt, will Flachländer Bornemann die Alpen-Abenteuer abschliessen und seine sportlichen Erfolgserlebnisse zukünftig mit etwas weniger Risiko erreichen. "Parki hinterlässt auch bei mir immer deutlichere Spuren", sagt Bornemann. Er will deshalb andere Strassen und Wege, neue Ziele finden, der Krankheit auch nach 20 Jahren immer wieder ein Schnippchen zu schlagen. "Ich weiss nicht, wie es mir ohne den Sport gehen würde. Aber ich sehe, dass es den Kranken in meiner Umgebung, die das alles nicht machen, nicht so gut geht wie mir."