„Schwer, wenn die Persönlichkeit vergeht“
Martina Rosenberg hat ihre Eltern acht Jahre lang gepflegt. Die Mutter: Alzheimer. Der Vater: Schlaganfall. Mit dem Mehrgenerationenhaus ihrer Träume hat ihr Zuhause nichts zu tun.Die Krankheit der Eltern wird zur Zerreissprobe
Frau Rosenberg, „Mutter, wann stirbst du endlich?“ heisst ihr Buch*, der Titel war Ihre Idee. Darf man das denken?
Ich verstehe schon, dass Menschen, die mit dem Thema Pflege, Siechtum, Trauer und Tod noch nicht konfrontiert waren, wahrscheinlich entsetzt reagieren. Aber wenn ein Mensch leidet und es keine Perspektive mehr für ihn gibt, dann ist es eine Erlösung, wenn er sterben darf. So war es für meine an Alzheimer erkrankte Mutter. Manchmal ist der Tod die bessere Alternative, und man muss fairerweise sagen - auch für das Umfeld. Aber es wäre schade, wenn sich eine Mutter persönlich angesprochen fühlte – ich bin auch Mutter.
Ihre Mutter, ein Ausbund an Geduld, Familienmensch und Sprachrohr für Ihren Vater, erkrankte an Demenz – wie hat sie sich verändert?
Sie war mehr auf sich selbst konzentriert und hat ihre Interessen stärker in den Mittelpunkt gerückt. Das war ungewöhnlich für sie. Denn meine Mutter hat sich ein Leben lang selbstlos um die Familie gekümmert, vor allem um meinen Vater. Ich fand das all die Jahre furchtbar, wie sie sich meinem Vater untergeordnet hatte – da bin ich eher das Gegenteil. Mit Beginn der Demenz hat sie das Fernsehprogramm angeschaut, das sie wollte. Sie trank Kaffee, ohne meinem Vater vorher einen zu bringen, und machte nicht mehr jeden Morgen das Frühstück. Ich dachte, das sei eine späte Emanzipation.
Dabei blieb es aber nicht.
Nein, sie hat schrittweise viele Fähigkeiten verloren, wurde hoch depressiv und hat durch ihr Schicksal extrem gelitten. Sie hat das Haus, in dem sie wohnte, nicht mehr als ihres erkannt. Sie fragte zum Beispiel: ‚Können wir bitte nach Hause gehen? Ich wohne hier nicht‘. Wie eine kaputte Schallplatte fing sie immer wieder von vorne an. Meinen Vater nervte und stresste das, er verstand einfach nicht, was in ihr vorging. Ausserdem konnte sie sich nicht mehr artikulieren, sie fand die Wörter nicht mehr in ihrem Kopf, und sagte oft: ‚Was passiert mit mir?‘ Sie war ziemlich verzweifelt darüber.
Sie zogen mit Mann, Kind und Hund in das Haus Ihrer Eltern. Mit der Erkrankung der Mutter nahm die Familiendynamik Fahrt auf. Was geschah?
Meinem Vater hat vermutlich die Aufmerksamkeit gefehlt, als meine Mutter Alzheimer bekam. Meine Eltern waren fast 60 Jahre verheiratet – er war immer der Mittelpunkt der Familie. Wenn er krank war, hing die Fahne auf Halbmast. Und wenn er einen Schnupfen hatte, trug meine Mutter ihm die Tempotaschentücher hinterher. Aber plötzlich konnte sie das nicht mehr. Viele Männer aus dieser Generation haben Schwierigkeiten alleine zurechtzukommen. Sie können nicht kochen und wissen nicht mehr, was sie anziehen sollen. So hat mein Vater immer wieder versucht, sie in das ‘richtige‘ Leben zurückzuführen. Er hatte immer die Hoffnung, es könnte wieder so werden wie früher. Dass das bisherige Leben zu Ende war und ein neues begonnen hatte, konnte er nicht verstehen und auch nicht zulassen. Er war nicht in der Lage, die Geschehnisse und sein Schicksal anzunehmen.
Sie waren entsetzt, wie ruppig Ihr Vater manchmal mit Ihrer Mutter umging. Sie schreiben, sein Verhalten war „mehr als irritierend“.
Es ist bestimmt für alle Menschen schwer, wenn die Persönlichkeit einer nahestehenden Person so vergeht. Mein Vater regte sich zum Beispiel furchtbar darüber auf, dass er mit ihr nicht mehr kommunizieren konnte. ‚Deine Mutter erzählt den ganzen Tag Quatsch, das hält doch kein Mensch aus!‘, schimpfte er. Und als sie immer wieder sagte, sie wohne hier gar nicht, hat er sie in den Rollstuhl gesetzt und gesagt: ‚Ich bringe jetzt deine Mutter nach Hause.‘ Da bin ich natürlich eingeschritten. Er hat nicht wirklich verstanden, was Alzheimer bedeutet.
Hatten Sie Verständnis für Ihren Vater?
Ich habe gesehen, dass er mit den Nerven am Ende war, weil es wahnsinnig anstrengend mit meiner Mutter war. Es gab eine Phase, in der sie ständig Aufmerksamkeit brauchte. Sie war hyperaktiv, aber nicht mehr so mobil. Den ganzen Tag über konnten wir nichts richtig machen, egal, was wir probiert haben. Selbst die Pfleger waren gestresst. Ich habe allerdings nicht verstanden, warum mein Vater keine Hilfe zugelassen hat. Ich habe ihm viele Vorschläge gemacht, zum Beispiel, sich in einer Reha zu erholen, Abstand zu gewinnen und wieder zu sich kommen. Aber er wollte unbedingt bei seiner Frau bleiben – selbst wenn das seinen Untergang bedeutete. Sie waren wie zwei Ertrinkende, die sich aneinander klammerten - beide konnten nicht schwimmen.
Ja, das muss man ehrlich sagen dürfen. Bei meiner Mutter habe ich erkannt, dass nicht die Optik einen Menschen ausmacht, sondern die Art, wie er redet, das Lachen, die Gestik, die Mimik. Das liebt und schätzt man an einer Person. Wenn das weg ist, finde ich es ganz schwer, die Gefühle immer wieder aufzubringen. Man muss sie aus der Vergangenheit herauskramen. Vielleicht ist es ja meinem Vater auch so gegangen.
Ihr Vater erleidet einen Schlaganfall und eine schwere Depression. Statt in einem Mehrgenerationenhaus - Ihrem Traum – lebten Sie nun plötzlich in einem Pflegeheim.
Das stimmt. Ich war nur noch damit beschäftigt, Dinge für meine Eltern zu organisieren: Arztbesuche, Korrespondenz mit der Krankenversicherung, Bankgeschäfte, Medikamente besorgen, einkaufen, Pflegekräfte einweisen. Man konnte meine Eltern keine Minute allein lassen. Sie waren Pflegestufe 2 und 3. Ich bin da hineingeschlittert, weil ich helfen wollte. Wir Geschwister haben uns vorher nie zusammengesetzt und überlegt, wer die Eltern eigentlich pflegen soll. Ich hatte aber schon vorher den intensivsten Kontakt zu ihnen. Ich bin trotzdem noch ein Fan von Mehrgenerationenhäusern – Alt und Jung ist eine tolle Kombination, wenn beide sich anstrengen.
Ihre Eltern wollten nie ins Heim. War die Pflege eine Verpflichtung für Sie als gute Tochter?
Meine Mutter hat mir schon mit 17 gesagt, dass ein Heim das Schlimmste sei, was man ihr antun könne. Sie dachte wahrscheinlich, dass die Menschen dort nicht ordentlich gepflegt würden. So haben meine Eltern mir die Verantwortung aufgebürdet. Es gibt aber Situationen, in denen ein Heim die bessere Wahl ist. Das ist ein schwieriger Schritt, weil man einen Menschen aus dem Leben reisst und es abschliesst - es kommt nie wieder zurück. Meine Mutter wäre in einem Heim definitiv besser aufgehoben gewesen, in dem man adäquat mit Demenzkranken umgeht. Und mein Vater hätte vielleicht in der Nähe wohnen und so auch wieder ein bisschen am Leben teilnehmen können. Aber das waren nur meine Überlegungen und Wünsche für die beiden.
Dank und Anerkennung haben Sie von ihren Eltern für Ihren Einsatz nicht bekommen.
Nein, nicht wirklich. Das Danke waren nur Worte. Meine Eltern haben meinen Einsatz als selbstverständlich angenommen, es wurde von mir erwartet. Sie haben mir nie die Hand gereicht und gesagt: ‚Mädchen, wenn du es nicht mehr schaffst, könnten wir dieses oder jenes versuchen.‘ Mein Vater war nicht mehr in der Lage, andere Leben und Menschen zu berücksichtigen. Es hat ihn auch nicht interessiert, wenn ich krank war. Ich hatte Tinnitus und Bluthochdruck. Er fragte einfach nur: ‚Warum warst du nicht da?‘
Die Situation zu Hause spitzte sich zu. Die Unruhe Ihrer Mutter, der Terror Ihres Vaters, der Zwist der Pflegerinnen – irgendwann sind Sie geflüchtet.
Es gab viele zermürbende Situationen. Mein Vater hat Aktionen gestartet, um mein Leben gezielt durcheinanderzubringen. Eines Tages stand er um sechs Uhr auf, zog die Rolladen hoch und weckte meine Mutter auf, die unruhig war, und aus dem Bett wollte. Ich musste arbeiten und hatte keine Zeit, sie anzuziehen. Die Pflegerin kam aber erst um acht Uhr. Das war ein Chaos. Mein Vater war froh, dass ich endlich da war und er mir zeigen konnte, wie viele Probleme er schon wieder hatte. Da wurde mir bewusst, dass sich das nie ändern würde, solange ich in dem Haus wohne. Er würde versuchen, mich mit hinunterzuziehen. Er wollte vielleicht unbewusst, dass ich in die Fussstapfen meiner Mutter trete. Wenn er etwas braucht, dann springe ich, aber dazu war ich nicht bereit. Ich habe die Distanz gesucht, um mich wieder zu fangen.
Wie gross war Ihr schlechtes Gewissen, die Eltern zurückzulassen?
Leicht gefallen ist mir das nicht. Ich hatte schon das Gefühl, ich würde sie im Stich lassen. Aber ich habe alles versucht und bin an meine Grenzen gegangen. Ich habe sogar eine Liste gemacht, warum ich eine gute Tochter bin. Er hätte nie gesagt: ‚Du tust alles für uns, und ich versuche mich so zu verhalten, dass du bestmöglichst dein Leben führen kannst.‘ Sie haben einfach eine Walze über uns alle rollen lassen. So finde ich eigentlich, dass meine Eltern mich im Stich gelassen haben.
Gab es schöne Momente in den acht Jahren der Pflege?
Nein. Solange meine Mutter gelebt hat, kann ich mich an nichts Schönes erinnern. Es gab gute Momente mit meinem Vater, als meine Mutter gestorben war. Die Kommunikation mit ihm war da eher möglich. Ich habe öfters mit ihm ein Glas Wein getrunken und geredet. Er hat sich gefreut und war auch ein bisschen friedlicher. An diesen Abenden habe ich ihn wiedererkannt.
Sie haben schliesslich gegen den Willen der Familie die Entscheidung getroffen, dass Ihre Mutter sterben dürfen soll. Sie schreiben, Sie hätten sich gefühlt, als würden Sie ihre Mutter höchstpersönlich umbringen.
Ich war auf jeden Fall die treibende Kraft, sie endlich sterben zu lassen, als sie sich von einer Lungenentzündung nicht mehr erholte. Meine Geschwister haben es mitgetragen, meinen Vater konnte ich überhaupt nicht involvieren, für ihn was das unvorstellbar. Und der Arzt hat mir sachlich gesagt, meine Mutter würde ersticken - das hat mir natürlich Angst gemacht. Ich war während des gesamten Sterbeprozesses dabei, mir aber zwischendurch nicht mehr sicher, das alles richtig entschieden zu haben. Ich wusste ja nicht, was ein sterbender Mensch bedeutet, und wie man ihm helfen kann. Ich kann mir ja nicht erst Bücher kaufen. Ich hätte mir gewünscht, dass ein Arzt in der Lage ist, einen sterbenden Menschen zu begleiten, und es nicht allein den Angehörigen überlässt.
Sie haben auf den Tod der Eltern gehofft, um frei zu sein. Hat sich das erfüllt?
Absolut. Der Tod meiner Mutter war eine gewisse Befreiung, weil sie das Leiden hinter sich hatte. Sie war schon vor Jahren gegangen, aber ich konnte nicht um sie trauern, weil sie ja noch da sass. Das ist, wie wenn jemand vermisst wird: Man kann sich nicht richtig verabschieden. Als mein Vater neun Monate später starb, konnte ich mein Leben wieder gestalten. Ich war eigentlich ein neuer Mensch.
Sie haben Ihrer Tochter klar gesagt: ‚Ich will auf keinen Fall, dass du mich pflegst.‘
Ja, das muss thematisiert werden. Ich will selbstbestimmt alt werden und eine Entscheidung treffen, wenn ich geistig dazu noch in der Lage bin. Betreutes Wohnen oder Heime, die kann ich mir ja vorher anschauen, dann entsteht das Dilemma nicht. Ich will, dass meine Tochter mich ausschliesslich besucht um zu sehen, ob es mir gut geht, mit mir einen Ausflug macht oder mir einen Kuchen backt. Beide sollen sich darüber freuen können, dass sie sich haben.
Frau Rosenberg, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Ingrid Müller.