Lahmgelegte Neuronen
Durchbruch in der Depressionsforschung: Nicht ein Mangel des Glückshormons Serotonin, sondern die Neuronen selbst verursachen möglicherweise die depressiven Symptome. Diese Erkenntnis könnte auch die Therapie revolutionieren
Viel erforscht, wenig verstanden: Depressionen sind noch immer ein Mysterium. "Manchmal kommen sie scheinbar aus heiterem Himmel", sagt Prof. Johannes Kornhuber von der Universität Erlangen-Nürnberg im Gespräch mit NetDoktor. Die Schatten auf der Seele bringen dann Hoffnungslosigkeit, Unfähigkeit zu Freude und tiefe Verzweiflung über die Betroffenen.
Falsche Hypothese
Bislang hat die Wissenschaft nur vage Hypothesen, was genau im Kopf der Patienten passiert. Die Wichtigste war, dass der Botenstoffwechsel im Gehirn gestört ist. "Insbesondere der von Serotonin", berichtet der Psychiater. Der Spiegel des Glückhormons ist bei depressiven Menschen zu niedrig. Eine ganze Klasse von Medikamenten zielt genau auf diesen Aspekt: Die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI, bewirken, dass ausgeschüttetes Serotonin viel langsamer wieder von den Zellen aufgenommen wird - der Spiegel steigt. Tatsächlich helfen die Medikamente vielen Patienten, "allerdings erst nach mehreren Wochen", erklärt der Wissenschaftler. Das war bislang rätselhaft - denn der Effekt auf den Serotoninhaushalt setzt schon nach 30 Minuten ein.
Schwächelnde Neuronen
Gemeinsam mit Prof. Erich Gulbins von der Universität Duisburg-Essen und weiteren Forschern hat er dafür eine mögliche Erklärung gefunden - und vor allem eine vollkommen neue Hypothese zur Entstehung von Depressionen aufgestellt. Demnach sind möglicherweise gar nicht die Botenstoffspiegel das Hauptproblem, sondern die Nervenzellen des Gehirns selbst. Offenbar ist bei depressiven Patienten die neuronale Plastizität - also die Neubildung und Verknüpfung von Neuronen im Gehirn - vermindert.
Die Forscher haben in diesem Zusammenhang einen bislang unbekannten, zellbiologischen Mechanismus entschlüsselt, der diese Hypothese sehr wahrscheinlich macht. Im Fokus stehen dabei bestimmter Lipide, sogenannte Ceramide, die die Entstehung und Vernetzung von Neuronen im Gehirn hemmen. Für die Bildung der Ceramide ist wiederum ein anderer körpereigener Stoff notwendig, die saure Sphingomyelinas, kurz ASM. Tatsächlich vermutet man, dass ASM in Köpfen depressiver Menschen besonders aktiv ist. "Zumindest im Blut der Patienten hat man erhöhte Werte gefunden", sagt Kornhuber.
Störung im emotionalen Zentrum
Experimente mit Mäusen, die aufgrund von Stress depressive Symptome zeigten, bestätigen diesen Zusammenhang: Als die Forscher den psychisch angeschlagenen Labornagern Antidepressiva verabreichten, sank die Ceramid-Konzentration im Hippocampus der Tiere. Diese Hirnregion ist unter anderem für die Regulierung von Emotionen entscheidend. Ausserdem beschleunigten sich dank der Medikamente tatsächlich auch Neubildung, Wachstum und Reifung von Nervenzellen. Das Verhalten der Tiere normalisierte sich: "Sie waren weniger ängstlich, hatten wieder mehr Appetit und pflegten auch ihr Fell wieder", berichtet der Forscher.
Tests mit Mäusen, die aufgrund einer genetische Veränderung besonders hohe ASM Spiegel produzierten, bestätigen den Ansatz. "Sie entwickelten auch dann ein depressionsartiges Verhalten, wenn sie nicht gestresst waren", berichtet Kornhuber. Und auch hier entfaltenden antidepressive Medikamente eine heilsame Wirkung - sowohl auf die Neuronen, als auch auf die Symptome.
Geklärte Rätsel
Dass dieser bislang unbeachtete Mechanismus hinter depressiven Symptomen steckt, würde auch erklären, warum es einige Wochen dauert, bis die Medikamente wirken: Die Plastizität der Neuronen erholt sich erst nach und nach.
Die Hypothese macht ausserdem verständlich, warum Stress Depressionen fördert. "Wenn wir gestresst sind steigt der Ceramid-Spiegel", sagt Kornhuber. Und so lässt sich auch erklären, warum Entspannungsübungen und Sport bei Depressionen helfen - sie lassen Stress verpuffen. "Patienten, denen man diesen Zusammenhang erklärt, wären vielleicht aufgeschlossener, selbst aktiv zu werden", hofft der Wissenschaftler.
Neue Ziele in der Therapie
In Zukunft könnte man auf Basis der neuen Erkenntnisse Medikamente entwickeln, die nicht nur zufällig wie die SSRI, sondern gezielt die Aktivität von ASM reduzieren. "Wir haben ein neues therapeutisches Ziel, nämlich den Ceramid-Überschuss zu reduzieren", sagt Kornhuber. Möglicherweise könnten diese auch Patienten helfen, bei denen die gängigen Antidepressiva versagen. Sie zu entwickeln, sei allerdings noch ein weiter Weg.
Nach wie vor offen allerdings bleibt zudem, was der eigentliche Grund für die schwächelnden Neuronen ist - und warum sie überhaupt depressive Gefühle auslösen. Auch Kornhuber sagt. "Wie Emotionen tatsächlich entstehen, das verstehen wir noch nicht wirklich."
Autoren- & Quelleninformationen
- Erich Gulbins, Johannes Kornhuber et al: "Acid sphingomyelinase-ceramide system mediates effects of antidepressant drugs", Nature Medicine (2013), doi:10.1038/nm.3214