Ich glaub‘, ich werd‘ dement
Wenn das Gedächtnis streikt, kann das ganz schön beängstigend sein. Dennoch gehen die meisten nicht sofort zum Arzt. Dabei könnten frühe Massnahmen die Demenz zumindest hinauszögern.
Verdammt, wo ist meine Brille? Und wie heisst nochmal der Nachbar gegenüber? Solche Aussetzer sind mit zunehmendem Alter normal und fallen in die Kategorie Altersvergesslichkeit.
Aber wenn es schwierig wird, Gesprächen länger zu folgen oder die Namen neuer Bekanntschaften grundsätzlich wie Herbstlaub verwehen? Oder wenn der Alltag ohne bunte Klebezettel und Kalendernotizen nicht mehr zu bewältigen ist? Dann steckt vielleicht mehr dahinter.
„Jeder Patient im Vorstadium einer Demenzerkrankung merkt das in gewisser Weise“, sagt Prof. Tobias Hartmann von der Universität des Saarlandes im Gespräch mit NetDoktor. Die meisten redeten dann erst mal mit Freunden darüber und bekämen kein richtiges Feedback. „Bis sie zum Arzt gehen, verstreicht dann wertvolle Zeit. Meistens befinden sie sich dann schon in einem frühen oder mittleren Demenzstadium“, so Hartmann.
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Aber ist das schlimm? Schliesslich gibt es bisher sowieso keine Therapie, mit der sich Demenz wirksam behandeln lässt. Dennoch: „Es ist immer wichtig, Gedächtnisstörungen von einem Arzt abklären zu lassen“, sagt Hartmann. Zum einen, weil andere Erkrankungen dahinterstecken könnten, etwa Hormonstörungen oder eine Depression. Diese müssten unbedingt behandelt werden.
Zum anderen verdichten sich die Hinweise, dass eine Lebensstiländerung im Vorstadium oder in einem frühen Stadium der Demenz noch viel bewirken kann. Neben Sport scheint insbesondere die Ernährung ein wichtiger Hebel zu sein, um die Entwicklung der Erkrankung zu verlangsamen. Diesen Zusammenhang haben Hartmann und seine Kollegen genauer unter die Lupe genommen.
Wundercocktail?
Dazu verabreichten die Wissenschaftler 150 Patienten mit einer Alzheimer-Vorstufe einen besonderen Trinkjoghurt, der es in sich hatte. Er enthielt elf verschiedene Nährstoffe, darunter essentielle Fettsäuren wie Docosahexaensäure, eine Omega-3-Fettsäure, Vitamine (B12, B6, C, E und Folsäure) und weitere Nährstoffe, etwa Cholin, Uridinmonophosphat oder Selen.
Die Konzentration der einzelnen Substanzen war keineswegs extrem hoch, sondern entsprach den offiziellen Ernährungsempfehlungen. Eine gleich grosse Kontrollgruppe mit denselben Krankheitsmerkmalen trank ebenfalls einen Joghurt, jedoch ohne besondere Inhaltsstoffe.
Der Versuch dauerte zwei Jahre. Alle sechs Monate traten die Teilnehmer zur Kontrolle an. Die Wissenschaftler untersuchten dann ihre Gehirne mit bildgebenden Verfahren. Ausserdem mussten die Probanden Gedächtnistests absolvieren, etwa sich an eine 10-Worte-Liste erinnern oder in 60 Sekunden so viele Tiere wie möglich aufzählen, und Fragebögen zu ihrem Alltag ausfüllen.
Nährstoff-Booster für das Gehirn
Die Hirnscans zeigten ein klares Ergebnis: „Der Hippocampus, also die Hirnregion, die auch für das Erinnern zuständig ist, schrumpfte in der Nährstoffgruppe durchschnittlich um 26 Prozent weniger als in der Kontrollgruppe“, berichtet Hartmann.
Für die Patienten selbst viel entscheidender war aber der Effekt, der möglicherweise aus der geringeren Hirnschrumpfung resultierte: Sie kamen im Alltag besser zurecht. Im Durchschnitt verschlechterte sich der Schweregrad ihrer Demenz nur halb so stark wie in der Kontrollgruppe. Dadurch konnten sie zum Beispiel ihren Haushalt noch besser führen, sich leichter wichtige Ereignisse merken oder finanzielle und geschäftliche Vorgänge bewältigen.
Einen Vorteil bei den Gedächtnistests brachte ihnen der Nährstoff-Booster allerdings nicht. Hier fanden die Forscher keinen statistisch haltbaren Unterschied zwischen den beiden untersuchten Gruppen.
Anker am Alzheimer-Boot
„Heilen können wir auf diesem Wege noch nicht. Aber wir sehen, je früher man etwas tut, desto grösser ist der Nutzen für den Patienten.“
Hinter der positiven Wirkung steckt vermutlich eine ganze Reihe von Mechanismen. Vorangegangene Studien zeigten, dass die verwendeten Nährstoffe bei der Entstehung von Alzheimer eine Rolle spielen. Sie wirken Entzündungen, der Schrumpfung des Gehirns und der Bildung von Ablagerungen in den Blutgefässen entgegen. „Man weiss zum Beispiel, dass die B-Vitamine eine Rolle bei der Hirnschrumpfung spielen“, erklärt Hartmann.
Allerdings schienen die Wirkstoffe erst wirklich zu funktionieren, wenn sie zusammenarbeiten können. So konnte Fischöl, welches grössere Mengen der Docosahexaensäure enthält, die Alzheimer-Demenz allein nicht bremsen. „Anscheinend bringt erst die Nährstoffkombination einen grösseren Effekt“, sagt Hartmann.
Die Rezeptur ist kein Wunderwerk: Beim Mischen des Nährstoff-Cocktails haben sich die Forscher an die geltenden Ernährungsempfehlungen gehalten. Doch im wahren Leben schafft es kaum jemand, wirklich alle darin enthaltenen Substanzen in ausreichender Menge aufzunehmen. „Besonders am Fisch scheitert es häufig“, erklärt Hartmann.
Den Trinkjoghurt bekommt man unter dem Namen „Fortasyn Connect“ in der Apotheke. Hartmann warnt aber vor einer selbstständigen Einnahme: „Sie sollten das immer mit Ihrem Arzt besprechen.“ Gefährlich sei vor allem, wenn eigentlich eine andere Erkrankung die nachlassende Gedächtnisleistung verursache.
Boomende Forschung
Derzeit existiert kein anderes Alzheimer-Medikament, das die Hirnschrumpfung messbar verlangsamen kann. Die Demenz-Forschung boomt allerdings: Aktuell testen Wissenschaftler 35 potenzielle Demenz-Medikamente in klinischen Studien, die langfristig die tatsächlichen Ursachen von Demenzerkrankungen bekämpfen könnten.
Hartmann und sein Team erforschen weiter die Wirkung von Nährstoffmixen bei Alzheimer-Demenz. Als nächstes interessiert die Wissenschaftler, wie der Trinkjoghurt auf längere Sicht wirkt, also über einen Zeitraum von zwei Jahren hinaus.
Autoren- & Quelleninformationen
- Hartmann T. et al.: 24-month intervention with a specific multinutrient in people with prodromal Alzheimer's disease (LipiDiDiet): a randomised, double-blind, controlled trial, The Lancet Neurology, 30. Oktober 2017.