Der geflickte Code
Ein winziger Dreher im genetischen Code kann tödliche Erbkrankheiten auslösen. Forscher in aller Welt versuchen, die kranken Gene durch gesunde auszutauschen. Doch die Methode birgt noch grosse Risiken
Felix Ott ist fünf Jahre alt. Ein ganz normaler kleiner Junge mit dunkelblondem Haar und langen Wimpern. Ein Kind, das gern in den Kindergarten geht und mit seinen Freunden herumtobt. Noch vor zwei Jahren sah sein Leben anders aus. Damals konnte jeder Stoss, jeder Sturz lebensgefährlich Blutungen auslösen. Wenn ein Virus durch die Luft flog, fing es sich der Junge garantiert ein, ständig war er krank. "Ihn abends ins Bett zu legen, und nicht zu wissen, ob er morgens wieder aufwacht, war der blanke Horror", erinnert sich Felix Mutter. Ihr Sohn litt unter dem seltenen Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS), einer Blutkrankheit, die durch ein einziges verändertes Gen auf dem X-Chromosom ausgelöst wird.
Selten und zerstörerisch
Nur 1 bis 9 von 1 Million Kindern treffe die Krankheit, berichtet Orphanet Deutschland. Das Syndrom zählt zu den "orphan diseases", den seltenen Krankheiten. Merkmale sind ein Mangel an Blutplättchen, die ausserdem noch zu klein sind, Ekzeme und häufige Infekte. Das Wiskott-Aldrich-Syndrom schwächt das Immunsystem und stört die Blutgerinnung. Bislang liess sich die Krankheit nur durch eine Blutstammzellenspende behandeln. "Unbehandelt sterben die Kinder meist vor ihrem zehnten Lebensjahr", erklärt Prof. Christoph Klein, Direktor der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie an der medizinischen Hochschule Hannover im Gespräch mit NetDoktor.de.
Letzte Hoffnung Gentherapie
Felix schien zunächst vom Pech verfolgt. Für ihn gab es keinen geeigneten Spender, nicht in seiner Familie und nicht in der grossen international vernetzten Spenderdatenkartei. Aber dann wendete sich das Blatt. An der Medizinischen Hochschule Hannover konnten ihm Experten helfen. Mit einer Gentherapie.
Das Team um Klein entnahm dem Jungen zunächst Blutstammzellen aus dem Knochenmark. Aus ihnen entstehen alle Blutzellen und sämtliche Zellen des Immunsystems. Anschliessend schleusten die Forscher gesunde Gene in die Stammzellen. Als Transporter für den Erbgutbaustein benutzen sie sogenannte Retroviren.
Viren als Gentaxis
Viren sind als Gentaxis bestens geeignet. Sie haben im Verlauf der Evolution eine Möglichkeit entwickelt, ihr eigenes Erbgut in Wirtszellen einzubringen. Anschliessend nutzen sie deren Vervielfältigungsprogramm für ihre eigene Reproduktion. Genau diese Fähigkeiten macht sich die Gentherapie zunutze. Dazu säubern die Wissenschaftler die Viren von allen krank machenden Genen und befrachten sie anschliessend mit gesunden Erbgutbausteinen. Den Rest der Arbeit übernimmt das Virus: Es "infiziert" die Zellen mit dem gesunden Gen.
Bei Felix verlief der Virentransfer erfolgreich. Heute arbeiten die gentechnisch veränderten Blutstammzellen in seinem Körper einwandfrei: Sie produzieren gesunde Blut- und Immunzellen. "Wir müsse ihn nicht mehr behandeln wie ein rohes Ei", sagt der Vater erleichtert.
Fortschritt in Trippelschritten
Bei monogenen Erkrankungen wie dem Wiskott-Aldrich-Syndrom ist eine einzige Veränderung in einem Erbgutabschnitt für die Entwicklung einer Krankheit verantwortlich. Für eine Gentherapie sind solche Erkrankungen geeignete Kandidaten, weil jeweils nur ein einziges Gen ausgetauscht werden muss - nämlich das "kaputte".
Bei komplexeren Erkrankungen ist die Lage ungleich schwieriger. Zum Beispiel bei Krebs oder den grossen Volksleiden wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alzheimer und Depressionen. Zu viele Gene sind am Krankheitsgeschehen beteiligt, von denen man längst nicht alle kennt. Hinzu kommen äussere Faktoren, zum Beispiel der Lebensstil, die ebenso ins Gewicht fallen. "Wir werden auch mithilfe der Gentherapie das Leiden nicht aus der Welt schaffen", sagt Klein. Allerdings könne es eines Tages möglich sein, vielen Menschen zu helfen. "Wir haben noch einen weiten Weg vor uns", weiss der Wissenschaftler.
Lichtblicke und Rückschläge
Neben den Lichtblicken, wie der erfolgreichen Therapie von Felix, gibt es auch immer wieder herbe Rückschläge. Die Gentherapie hat ihre Tücken. "Zum einen wissen wir nicht, ob der Behandlungserfolg dauerhaft ist", erklärt Klein. Hat man Pech, stellen die eingeschleusten Gene die Arbeit nach einiger Zeit wieder ein.
Noch bedrohlicher ist aber die Möglichkeit, dass die Gentherapie eine Krebserkrankung entfacht. "Die Gene springen in das Chromosom hinein. Dabei kann es passieren, dass sie auch benachbarte Gene aktivieren", erklärt Klein. Kommen weitere Mutationen hinzu, gerät die Balance im Erbgut ins Rutschen - es kann sich eine Leukämie entwickeln. Momentan wird der Teufel noch mit dem Beelzebub ausgetrieben.
Das zeigt das Beispiel von Felix kleinem Mitpatienten in Hannover. Er ist einer von neun Jungen, die Klein und sein Team behandelt haben. Weltweit haben erst rund 50 Schwerstkranke wegen unterschiedlicher Leiden eine Gentherapie erhalten. Auch bei ihm war die Therapie bislang komplikationslos verlaufen. Drei Wochen vorher schien noch alles in bester Ordnung. "Die Leukämie muss rasend schnell ausgebrochen sein", berichtet Klein. Nun muss sich das Kind einer Krebstherapie unterziehen. "Das liegt wie ein Schatten über uns allen."
Riskante Rettung
Wie bei jeder Therapie müssen auch bei der Gentherapie Nutzen und Risiken gegeneinander abgewogen werden - und die sind derzeit noch sehr hoch. "Momentan kommt ein solcher Eingriff darum nur dann infrage, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, die Krankheit zu beherrschen." Im Falle von Felix und seinen Mitpatienten wäre die Alternative mit ziemlicher Sicherheit der Tod gewesen. In Zukunft hoffen Forscher, mit veränderten Virenfähren das Leukämierisiko verringern zu können. Sie lernen aus jedem Rückschlag. "Wir stehen erst ganz am Anfang", sagt Klein.
Alle drei Wochen werden Felix und seine Schicksalsgenossen genaustes untersucht - auch auf Anzeichen für eine Leukämie. Bei Felix jetzt alles gut aus. Die Eltern sind überzeugt, dass das auch so bleiben wird. Nicht umsonst haben sie ihren Sohn "Felix" genannt. Zu Deutsch heisst das "der Glückliche".
Mehr Infos:
Orphanet Deutschland, Internet: www.orphanet.de (Abruf: 24.11.2010);
Deutsche Gesellschaft für Gentherapie, Internet http://www.dg-gt.de/ (Abruf: 24.11.2010);