Die Jagd nach dem Strohhalm
Hannah muss sterben. Obwohl es ein Medikament gegen ihre Kinderdemenz gibt. Darf das Pharmaunternehmen in so einem Fall die Herausgabe der Arznei wirklich verweigern – nur weil sie noch nicht zugelassen ist?
Hannah sitzt am Basteltisch und klebt einem Schmetterling Flügel an. Das neunjährige Mädchen mit den braunen, leicht gelockten Haaren bastelt gerne. Aber schon bald wird sie das nicht mehr können. Denn Hannah leidet an einer seltenen Erkrankung: an Neuronaler Ceroid-Lipofuszinose Typ 2, kurz NCL2. Die Schrift, die Hannah auf den Schmetterling krakelt, lässt sich kaum entziffern. Schon jetzt kann Hannah nicht mehr richtig lesen und schreiben – sie wird dement. Wenn die Krankheit weiter fortschreitet, wird sie auch verlernen zu laufen und zu sprechen – und sie wird erblinden. Die kleinen Patienten mit NCL2 haben oft auch Halluzinationen und epileptische Anfälle. Die meisten sterben bereits im Teenageralter.
Für Hannas Eltern war die Diagnose im Februar ein grosser Schock. „Ich musste erstmal vor die Tür gehen, um zu weinen“, erzählt Hannahs Mama Stefanie Vogel gegenüber NetDoktor. Doch dann erfuhr die Familie von einem Medikament, das Hannah möglicherweise helfen könnte. Der Haken: Es befindet sich noch in der klinischen Testphase und wird frühestens in zwei bis drei Jahren zugelassen. Für Hannah ist das zu spät. „Wir werden alles daran setzen, dass Hannah das Medikament so schnell wie möglich bekommt“, sagt die Mutter. Aber geht das überhaupt?
Ausnahmen erlaubt
Bevor ein neues Medikament auf den Markt kommt, muss in klinischen Studien ermittelt werden, ob es wirkt und verträglich ist. Es gibt aber in Deutschland die Möglichkeit eines sogenannten individuellen Heilversuchs. Ist jemand unheilbar krank wie Hannah, darf die Herstellerfirma die Arznei bereits vor der Zulassung für diesen Patienten herausgeben, schreibt der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa). Voraussetzung ist, dass alle anderen Therapiemöglichkeiten erschöpft sind und sich ein Arzt findet, der die Behandlung übernimmt.
Bei der kleinen Hannah wären alle Kriterien für einen individuellen Heilversuch erfüllt. Kindern mit NCL2 fehlt ein bestimmtes Enzym, die Tripeptidylpeptidase 1 (TPP 1). Das ist sozusagen die zelleigene Müllabfuhr. Ohne diese sammeln sich wachsartige Stoffe in den Geweben an. Die empfindlichen Nervenzellen sterben dadurch nach und nach ab.
Ersetzte Zell-Müllabfuhr
„Da liegt es nahe das fehlende TPP 1 zu ersetzen“, so Professor Thorsten Marquardt von der Universität Münster. Der Stoffwechselexperte hat schon öfter Patienten mit noch nicht zugelassenen Medikamenten behandelt. Er würde auch die Therapie von Hannah betreuen.
Cerliponase Alfa oder BMN 190 heisst das Medikament der US-amerikanischen Firma Biomarin, das Hannahs Nervenzellen vom Müll befreien könnte. Damit die künstlich hergestellten Enzyme direkt an Ort und Stelle ankommen, wird den Kindern ein kleiner Schlauch durch ein Miniloch in der Schädeldecke direkt ins Gehirn gelegt, der mit einem kleinen Vorratsspeicher verbunden ist. Dieser gibt das Ersatzenzym dann kontinuierlich an die Nervenzellen im Gehirn ab.
Verwehrte Enzymersatztherapie
Seit eineinhalb Jahren läuft ein internationaler klinischer Test mit 24 NCL2-Kindern. Bei keinem der kleinen Probanden hat sich laut Herstellerfirma der Zustand, seit dem sie das Medikament einnehmen, verschlechtert. Einige berichten sogar von einer Verbesserung.
Aber Biomarin möchte das lebensrettende Medikament nicht für die Behandlung von Hannah herausgeben. Laut vfa liegt die Entscheidung dann tatsächlich beim forschenden Pharmaunternehmen. Es müsse abwägen, ob im konkreten Fall eher eine Chance oder ein Risiko für den Patienten bestehe.
Kampf gegen einen Pharmariesen
Tatsächlich schreibt Biomarin auf Nachfrage von NetDoktor, dass Sicherheit und Wirksamkeit des Medikaments zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausreichend bewiesen seien. Doch das Argument hinkt: „Für Hannah gibt es keine Alternative. In ein bis zwei Jahren wird ihr Gehirn soweit zerstört sein, dass sie ein Pflegefall ist“, sagt Stefanie Vogel. Zudem verweist der Pharmakonzern auf die „ethische Verpflichtung“, die man gegenüber allen Patienten mit NCL2 habe, „die ebenfalls mit grösster Dringlichkeit auf neue therapeutische Optionen warteten.
Man fürchtet also, dass sich die Zulassung des Medikaments durch eine Herausgabe an Patienten ausserhalb der Studie verzögern könnte. Das Risiko ist durchaus gegeben, nämlich wenn bei dem individuellen Heilversuch etwas schief läuft. Dann könnten beispielsweise Teilnehmer der Studie abspringen oder die Zulassungsbehörde könnte ein negatives Urteil fällen, erklärt Dr. Rolf Hömke von der vfa gegenüber NetDoktor das Problem. In dem Fall würden andere Patienten tatsächlich länger auf ein Medikament warten müssen. Vor allem aber würde Biomarin viel Geld verlieren.
Hannah und ihre Familie wollen das nicht akzeptieren. Sie haben eine Petition bei change.org gestartet, die in kürzester Zeit mehr als 200.000 Menschen unterzeichneten. Ob sie damit den Pharmariesen umstimmen können, bleibt abzuwarten. Hannah hat sich ausserdem für eine zweite klinische Studie beworben, die im Dezember startet. Wie weit die Krankheit zu diesem Zeitpunkt bereits fortgeschritten sein wird, weiss niemand.
Link zur Unterschriftensammlung „Hoffnung für Hannah“:https://www.change.org/hannah
Autoren- & Quelleninformationen
- NCL Gruppe Deutschland e.V.: www.ncl-deutschland.de, Abrufdatum 26.05.2015
- Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V.: www.vfa.de, Abrufdatum 26.05.2015