Der besondere Riecher
Die einen Hunde lotsen ihr blindes Herrchen sicher durch die Strassen, die anderen balsamieren geschundene Menschenseelen. Auch Hündin Linda hat einen speziellen Job. Ihr Frauchen Marion hat Typ-1-Diabetes. Sinkt ihr Zuckerspiegel extrem, klingelt Linda sie ins Leben zurück
Hund pflückt Decke mit der Leine… Einen Sinn ergibt der Satz nicht, den Marion beim Korrigieren der Schülerarbeiten in die PC-Tastatur tippt. Wortfetzen drehen langsame Wirbel in ihrem dunstigen Kopf, die Hände beben, Schweisstropfen kleben auf der bleichen Stirn, ein Windstoss, der durch das offene Wohnzimmerfenster weht, kühlt sie weg. Der Holzschreibtisch der Deutschlehrerin ist vergraben unter Schülerheften, losen Schmierzetteln, einer Jumbo-Tasse Kaffee und einer Bambuspflanze, deren Blätter vor dem Bildschirm tanzen. Marions Augen hinter der schwarzen Brille huschen über die Papierstapel, die Finger kramen zwischen den Blättern ein kleines Päckchen hervor, das sie schnell in den Mund steckt. Traubenzucker, eine kleine weisse Tafel, die das Leben der 46-jährigen Diabetikerin retten kann. „Mein Problem ist, dass ich zwar spüre wenn meinem Körper Zucker fehlt, es aber sofort wieder vergesse“, sagt Marion. „Ich beisse mich dann wie in Trance an dem fest, was ich gerade mache.“ Wie eine Spirale sei das, schwer daraus zu entkommen.
Das vergessene Problem
Und das kann für die Kölnerin schnell lebensgefährlich werden. Denn mehrmals täglich stürzt ihr Blutzuckerspiegel von einer Minute auf die andere ab. Unterzucker kann bei Diabetikern verschiedene Symptome wie Heisshunger, Herzjagen, Unruhe, Sprach- und Sehstörungen verursachen. Marion zum Beispiel kann plötzlich nicht mehr klar denken oder vernünftig handeln. „Rauscht mein Zuckerspiegel unbemerkt immer weiter in den Keller, falle ich im schlimmsten Fall sogar ins Koma“, erzählt sie nachdenklich und legt die Stirn in Falten. Manche Diabetiker, die Insulin spritzen, haben die Wahrnehmung jeglicher Frühsymptome einer Unterzuckerung verloren. Andere registrieren den niedrigen Blutzuckerspiegel erst sehr spät. Marion hat seit 20 Jahren Typ-1-Diabetes, eine Krankheit, bei der das körpereigene Immunsystem die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse zerstört. Und das führt zu hohen Blutzuckerspiegeln, aber auch zu niedrigen – zum Beispiel, wenn man das Insulin zu hoch dosiert, zu wenig isst oder zu viel Sport treibt.
„Nicht drauf ankommen lassen“
Im Kampf gegen den Unterzucker heisst es: Schnell Kohlenhydrate essen, die den Blutzucker in die Höhe treiben, zum Beispiel Traubenzucker. Wirklich lebensbedrohliche Situationen hat Marion aufgrund eines Zuckermangels aber noch nicht erlebt. Fiele sie ins Koma, wäre dies fatal für die allein lebende Frau. „Deshalb passt jetzt Linda auf mich auf“, lacht sie und krault dem schwarz-weissen Knäuel, das zusammengerollt neben ihr auf dem Boden liegt, den Kopf. Linda ist eine kniehohe Mischlingshündin, die eine Gesichtshälfte schwarz, der restliche Körper gescheckt wie eine Kuh, die eine ganz besondere Ausbildung hat: Sie riecht, wenn Frauchens Zuckerspiegel sinkt. Und gibt ihr dann lautstark Bescheid. Durch Klingeln, Anstupsen und Kratzen. „Das macht sie dann so vehement, dass ich mit nichts mehr weitermachen kann,“ erzählt die dunkelblonde Frau. Linda bewahrt Marion seit fast zwei Jahren vor schweren Unterzuckerungen. „Sie ist kein Schweizer Uhrwerk, aber in 80 bis 90 Prozent der Fälle beweist sie den richtigen Riecher – das gibt mir eine wahnsinnige Sicherheit“.
Vom Strassenhund zum Lebensretter
Noch vor drei Jahren war Linda ein Strassenhund auf Gran Canaria. Ohne Vertrauen zu den Menschen, absolut scheu und natürlich ohne Erziehung. Eine Tierschutzorganisation sammelte das verwaiste Tier schliesslich auf und stellte ein Bild des damals sechs Monate alten Hundes ins Internet, um neue Besitzer zu finden. „Ich sah Linda und war sofort verliebt in sie“, erinnert sich Marion. Eigentlich suchte sie nur einen Weggefährten für sich. Dass aus diesem mal ein Diabetiker-Warnhund werden sollte, wusste sie damals noch nicht.
Einige Monate zuvor hatte Marion in einem Bericht gelesen, dass es diese Ausbildung überhaupt gibt. „Als Linda schliesslich bei mir war, habe ich mich daran erinnert“, sagt sie, „aber es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich die richtige Hundeschule für uns gefunden habe“. Für Marion war die Suche nicht einfach, denn manche Hundetrainer verstünden ihr Handwerk kaum und nutzten das Leid der anderen aus, um Geld mit der Ausbildung eines Hundes zu verdienen. „Manche verlangen bis zu 5.000 Euro dafür!“, schimpft sie, da gerät die zierliche Frau mächtig in Wallung. Das hätte sie sich nicht leisten können, und ausserdem wusste sie ja noch nicht einmal, ob Linda überhaupt jemals eine Unterzuckerung würde erschnüffeln können.
Der klingelnde Lebensretter
Was genau Diabetiker-Warnhunde wie Linda riechen, darüber sind sich Wissenschaftler nicht wirklich einig. Doch wahrscheinlich sind es Hormone, die der Körper während einer Unterzuckerung zur Gegenregulation freisetzt. Deshalb bemerkt Linda zwar, dass Marions Zuckerspiegel sinkt, nicht aber, wenn er die kritische Untergrenze von 50 mg/dl erreicht hat.
Der Zuckerspiegel der Deutsch-Lehrerin hält sich nicht an Geradlinigkeit, sondern schwankt tagsüber auf und ab wie ein Schiff auf See. „Eigentlich ist mein Zucker gut eingestellt, aber Linda bekommt schon die kleinste Veränderung mit“, erklärt die Hundebesitzerin. Deswegen schlägt die aufmerksame Hündin auch mindestens viermal täglich an. Sie hat gelernt, eine pinkfarbene Klingel, die in Marions Dreizimmerwohnung auf dem Parkettboden steht, mit der Nase anzustupsen, um so ein schallendes „Ding-Dong“ auszulösen. Für Linda bedeutet das: Belohnung! Für Marion dagegen, dass sie schnell ein Stück Traubenzucker essen muss. „Linda riecht den Unterzucker sogar, wenn ich in einem anderen Zimmer bin“, erklärt Marion. Um das zu können, mussten Hund und Frauchen allerdings einiges lernen und konsequent trainieren.
„Jeder Hund kann das“
Deshalb reisen beide regelmässig für ein paar Tage aus der Grossstadt Köln ins 350 Kilometer entfernte Siegerland. In die Hundeschule von Uschi Loth. Dort lernt die ehemalige Strassenhündin, was es heisst, ihr Frauchen zu beschützen. „Für mich ist es jedes Mal wie Urlaub, wenn ich hier bin“, schwärmt Marion, als sie das schwere Eisentor des mannshoch eingezäunten Territoriums aufstösst. Statt einer Wellnessoase erwartet die mit wasserfesten Boots, Jeans und gelber Regenjacke ausgerüstete Frau jedoch ein stillgelegtes Bundeswehrgelände. Zwischen Tannen, Laubbäumen und wildwuchernden Büschen ragen auf dem 70.000 Quadratmeter grossen Territorium wuchtige graue Betonklötze hervor, die damals als Mannschaftsunterkünfte dienten. Auf einigen Fleckchen des hügeligen, verwilderten Trainingsplatzes ist das Gras akribisch gestutzt. Die grünen Vierecke, halb so gross wie ein Fussballfeld, werden vor allem im Sommer für die Unterrichtsstunden genutzt.
Und die bekommen sie von Uschi, die mit ihrem zotteligen Hundegefährten, der aussieht wie Alf, um die Ecke biegt. Die 60-Jährige ehemalige Studiendirektorin mit feuerroten Locken, die sich bis zu den Schultern kringeln, hat aus der schüchternen Linda in nur sechs Monaten einen zuverlässigen Diabetiker-Warnhund gemacht. „Anfangs hätte ich es nie für möglich gehalten, dass auch mein Hund das kann“, strahlt Marion und wirft ihre sonst glatte Haut in feine Fältchen. Auch Uschi ist begeistert über die enormen Fortschritte, die Linda seit Beginn der Ausbildung gemacht hat. Wirklich gezweifelt hat sie an den Fähigkeiten des Hundes jedoch nie. „Jeder Hund kann ein Diabetiker-Warnhund werden, egal ob gross oder klein, ob Rassetier oder Strassenmischung“, betont Uschi lachend und bringt sich vor Linda in Sicherheit, die auf ihren dünnen Hundestelzen in engen Zirkeln um Uschi herumjagt. „Etwas zu erschnüffeln liegt in der Natur der Hunde“, erklärt die passionierte Hundetrainerin. Am schwierigsten sei es aber, den Hunden beizubringen, was sie überhaupt riechen sollen.
Finde das Zucker-T-Shirt
Um sie auf den Geruch einer Hypoglykämie, also einer Unterzuckerung, zu konditionieren, braucht die Trainerin zwei T-Shirts der Hundebesitzer. Eines, das sie während einer Unterzuckerung getragen hat, und ein gewaschenes, frisches T-Shirt. Beide werden in kleine Fetzen geschnitten und dem Hund beim Training hingelegt. Schnüffelt dieser an dem Stoffteil, das Marion während der Unterzuckerung anhatte, gibt es eine Belohnung. „So lernt der Hund, dass der Geruch während des Zuckerabfalls etwas Tolles ist - zumindest für ihn!“, sagt Uschi. Dann müssen wir den Tieren noch beibringen, dass sie ihren Besitzern Bescheid geben. „Manche Hunde betätigen später eine Klingel, andere stupsen die Besitzer an und wieder andere bellen“, erzählt die Trainerin und streichelt Linda übers Fell, die es sich neben ihr gemütlich gemacht hat. Die Grundausbildung kann bis zu einem Jahr dauern, je nachdem wie gelehrig ein Hund ist.
Und das ist Linda auf jeden Fall. „Natürlich müssen wir weiter üben, damit sie das Gelernte nicht vergisst“, meint Uschi. Ausserdem muss das Tier begreifen, dass es nie Urlaub hat und rund um die Uhr für sein Frauchen im Einsatz ist. 24 Stunden, an sieben Tage der Woche. Auch in der Nacht. „Und es wäre schön, wenn Linda noch ein wenig mehr lernen könnte“, sagt Marion, „zum Beispiel mir eine Tafel Traubenzucker zu bringen“.
Weitere Infos zu dem Thema Diabetiker-Warnhunde sind unter www.diabetiker-spuerhunde.de zu finden.