Das Zeitalter der Pandemien
Sars-CoV-2 wird nicht der letzte Pandemieerreger sein - da sind sich Wissenschaftler einig. Das Risiko steigt auch, weil viele Tierarten aussterben. Wie lässt sich die Gefahr einer erneuten Katastrophe verringern?
Vor 20 Jahren glich jede Autobahnfahrt einem Massaker: Tausende zerplatzter Insektenleichen klebten am Ende jeder Reise auf Motorhaube und Windschutzscheibe. Heute sind die Autos auch nach 100 Kilometern noch blitzblank – ein kleiner, aber erschreckender Beleg dafür, wie weit das Insektensterben bereits vorangeschritten ist. Es ist nur ein Ausschnitt einer drohenden globalen Katastrophe.
„Eine Million der weltweit bekannten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht, wenn wir nicht gegensteuern“, erklärt Prof. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung im Gespräch mit NetDoktor. Die Zahl geht aus dem globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrates der Vereinten Nationen (2019) hervor, an dem der Umweltforscher und Agrarökologe in leitender Funktion beteiligt war. Täglich verschwinden demnach etwa 130 Tier und Pflanzenarten unwiderruflich. Das Sterben geschieht meist still: Wer kein Schneeleopard ist, hat keine Lobby.
Wer braucht schon Knoblauchkröten?
Der Eine oder die Andere mag mit den Schultern zucken angesichts der Tatsache, dass der Alpen-Wollfalter verschwunden ist und es von der Knoblauchkröte nur noch Restpopulationen gibt. Doch das weltweite Artensterben bedeutet nicht nur ein trauriges Verarmen der Natur – es ist eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit. Stabile Ökosysteme sind unsere Lebensgrundlage. Und: Sie sind ein Bollwerk gegen die Entstehung neuer Krankheiten und Pandemien.
Ob Ebola, HIV, Schweinegrippe, MERS oder Sars-CoV-2 – sie alle entstanden, weil irgendwann ein tierisches Virus einen Menschen infiziert hat. „Zoonosen“ nennen Mediziner solche Krankheiten, die aus dem Tierreich stammen.
Sie haben besonders hohes Pandemiepotenzial, denn sie treffen – anders als die alljährliche Grippe – beim Menschen auf ein völlig unvorbereitetes Immunsystem. Die letzte verheerende Pandemie, die Spanische Grippe 1918/19 mit ihren 20 bis 50 Millionen Toten, ist fast exakt hundert Jahre her. Covid-19 wütet noch. Und die nächste Pandemie könnte uns sehr viel rascher ereilen.
Experten hatten die Katastrophe erwartet
„Dass in naher Zukunft wieder eine schwere Pandemie auftauchen könnte, damit hat die Wissenschaft schon lange gerechnet“, sagt Prof. Simone Sommer, Evolutionsökologin an der Universität Ulm, gegenüber NetDoktor. Denn die Gelegenheiten für den Virenaustausch zwischen Mensch und Tier haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant vervielfacht.
Und so hat auch der als stoischer Trump-Berater berühmt gewordene US-Virologe Dr. Anthony S. Fauci gemeinsam mit Kollegen 2020 Jahr ein Positionspapier verabschiedet. Darin warnen die Wissenschaftler vor einem „Zeitalter der Pandemien“.
Zoonosen: Ein Treffer in Trilliarden
Warum, das erschliesst sich bei näherer Betrachtung. Denn Zoonosen sind normalerweise sehr seltene Phänomene. Eigentlich spezialisieren sich Erreger auf bestimmte Wirte. Um deren Zellen befallen zu können, benötigen die Viren beispielsweise spezielle Oberflächenproteine, die wie ein Schlüssel zum Schloss der Zelloberfläche passen. Je besser dieser passt, desto erfolgreicher ist das Virus.
Bei Zellen anderer Tierarten – und damit auch denen des Menschen – passt der Schlüssel normalerweise nicht - oder er klemmt zumindest. Es sei denn, das Virus hat im Zuge einer zufälligen Mutation den passenden Schlüssel für humane Zellen ausgebildet. Und es braucht noch einen zusätzlichen Faktor: „Ein solches Virus muss auch noch zufällig direkt auf einen Menschen treffen, den es befallen kann“, erklärt Sommer.
So unwahrscheinlich das auch im Einzelfall scheinen mag: Bei nunmehr fast acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten (doppelt so viele wie 1970!), die der Tierwelt immer näher auf den Pelz rücken, erscheint die zunächst sehr hypothetische Konstellation plötzlich gar nicht mehr so unwahrscheinlich.
Wenn Viren die Artenschranke überspringen
Die Erreger springen beispielsweise über, wenn Menschen Wildtierfleisch – „Bushmeat“ genannt – verzehren. Entstanden Zoonosen früher auf diesem Wege in abgelegenen Siedlungen, liefen sie sich mangels Kontakten irgendwann tot. Heute aber werden exotische Wildtiere immer häufiger als Delikatesse auf den Märkten grosser Städte feilgeboten: Flughunde, Schuppentiere, Affen.
Eine Hypothese zur Genese der aktuellen Pandemie ist, dass der Artensprung in dem inzwischen geschlossenen Tiermarkt der Millionenmetropole Wuhan geschah. Von da aus wurde sie exportiert in alle Welt.
Wer jetzt anklagend mit dem Finger nach Asien und Afrika zeigt, dem darf man entgegenhalten: Westliche Industrienationen haben ihre eigenen Brutstätten für potenzielle Zoonosen. Auch in der hiesigen industriellen Massentierhaltung, bei der viele Tiere der gleichen Art unnatürlich gedrängt im Stall stehen, breiten sich Virenerkrankungen aus - und damit auch neue, potenziell gefährliche Mutationen.
Der Mensch rückt der Natur auf den Pelz
Der Haupttreiber für Krankheiten aus dem Tierreich aber ist die Abholzung der Regenwälder. „31 Prozent der bekannten Zoonosen sind darauf zurückzuführen“, berichtet Sommer.
Die tropischen Waldlandschaften sind nicht nur von beispiellos vielen Tierarten bevölkert – in diesen wiederum gedeihen entsprechend vielfältige Virenformen. Menschen, die in die weitgehend unberührten Regionen vorstossen, kommen mit ihnen zunehmend in Kontakt. Je enger der Mensch der Tierwelt auf den Pelz rückt, desto wahrscheinlicher wird es, dass eine neue Zoonose entsteht.
„Tatsächlich argumentieren manche Leute, wenn man Regenwald abholze, würden ja auch die Viren verschwinden“, berichtet Settele. Abgesehen davon, dass das eine ökologische Katastrophe für den ganzen Planeten wäre, stimmt es nicht. Im Gegenteil: Die Entstehung von Zoonosen wird durch Abholzung und Artensterben erst so richtig angeheizt.
Vorteil für Überlebenskünstler
Mit dem Wald geht Lebensraum für unzählige Pflanzen und Tiere verloren. Insbesondere die Spezialisten unter den Tieren, die sich extrem gut an ihre Umwelt angepasst haben, kommen damit nicht zurecht. Ihre Zahl schrumpft – oder sie sterben gleich ganz aus.
Die Nischen, die sie hinterlassen, übernehmen die Generalisten unter den Tieren – Überlebenskünstler, die sich gut an veränderte Lebensbedingungen anpassen können. „Diese Arten können sich dann stark vermehren, beispielsweise, weil Raubfeinde und Nahrungskonkurrenten fehlen“, erklärt Sommer. Hierzulande sind es beispielsweise Wildschweine und Tauben, in den Tropen oft anpassungsfähige Nager und Fledertier-Arten.
Ihre Populationen wachsen dann rasant. Wenn aber viele Tiere einer Art im gleichen Lebensraum leben, bereitet das Krankheitserregern den Boden, darunter auch vielen Virusvarianten. Der Austausch funktioniert zu gut.
So steigt das Risiko, dass eine darunter ist, die auch den Menschen infizieren kann. Und weil gerade Generalisten auf der Suche nach Nahrung und Nistplätzen auch in den menschlichen Radius eindringen, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Artensprungs erheblich.
Gefährlicher nach dem Artensprung
Nicht selten ist der Erreger für den neuen Wirt dann deutlich gefährlicher als für den ursprünglichen Gastgeber. „Krankheitserreger und das Immunsystem ihrer Wirtsorganismen passen sich über lange co-evolutionäre Mechanismen aneinander an“, erklärt Sommer. So ist sichergestellt, dass das Virus den Wirt nicht zu schwer erkranken lässt – zumindest nicht, bevor dieser die Infektion weitergeben kann.
Bei einem neuen Wirt wie dem Menschen trifft ein neuartiger Erreger aber auf ein völlig unvorbereitetes Immunsystem. Ein Beispiel dafür ist Ebola: Während infizierte Fledermäuse keine Krankheitszeichen zeigen, sterben 30 bis 90 Prozent der erkrankten Menschen.
Mehr Wald, weniger Pandemien
Artenschutz ist somit ein direkter Weg, künftige Pandemien zu verhindern. Der Schutz der Wälder im Amazonasgebiet, Afrika und in Asien beginnt aber nicht in den Ländern rund um den Äquator, er beginnt auf dem eigenen Teller.
Eine zentrale Stellschraube ist der Fleischkonsum. In Südamerika beispielsweise werden seit Jahren Bestände gerodet, um Weideland für Rinder zu schaffen – deren Steaks auch auf deutschen Barbecues landen.
Aber auch heimisches Fleisch aus Massentierhaltungen befördert indirekt Brandrodungen im Regenwald. Denn in Südamerika entstehen riesige Sojaplantagen, deren Produktion verschifft und dann hier in der Massentierhaltung verfüttert wird. Sommer sagt es so: „Wenn wir auf Produkte aus Massentierhaltungen verzichten, dann haben wir direkt vor der Haustüre gekehrt.“
Jedes Steak weniger aus Massentierhaltung zählt
Ernährungswissenschaftler empfehlen schon lange, wenn schon Fleisch zu verzehren, dann weniger und dafür hochwertiges und regionales aus artgerechter Haltung. Somit ist jedes Steak aus Massentierhaltung, das wir nicht auf den Grill werfen, nicht nur ein Plus für die eigene Gesundheit, sondern gleichzeitig aktiver Arten- und Pandemieschutz.
Wer sich nicht vorstellen kann, dass nicht-verspeistes Billigfleisch einen echten Unterschied macht, der denke nur an die aktuelle Pandemie. Wenn wir im Ringen mit Inzidenzwerten, Maskentragen und Kontaktbeschränkungen eines gelernt haben, dann das: Wenn viele häufiger das Richtige tun, dann macht das einen echten Unterschied.
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Autoren- & Quelleninformationen
- Josef Settele: Die Triple-Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien, EdelBooks 2021
- Schutz der Biodiversität weltweit: Parlament fordert verbindliche Ziele , EU-Pressemitteilung
- Vaccinology in the Age of Pandemics: Strategies Against COVID-19 & Other Global Threats June 15–16, 2020