Coronakrise: Es droht mehr häusliche Gewalt
„Bleibt zu Hause!“ ist der wichtigste Appell in der Coronakrise. Er dient dem Schutz all jener, die von Covid-19 besonders bedroht sind. Doch was, wenn das eigene Heim der gefährlichste Ort ist? Wenn nicht das Virus die grösste Gefahr darstellt, sondern der eigene Partner, Vater oder auch - in 20 Prozent der Fälle - die Frau oder Mutter?
Im chinesischen Wuhan verdreifachte sich die Zahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt während der Ausgangssperre. Zur Angst vor der Erkrankung kommen finanzielle Nöte und Zukunftssorgen, die beengte Situation, unruhige Kinder.
„Die Gewalt war schon vorher da“
„Die Gewalt ist nicht durch die Coronakrise entstanden, die war schon vorher da“, stellt Katja Grieger, Geschäftsführerin des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff) im Gespräch mit NetDoktor richtig.
Gestaute Aggressionen
Doch durch die Beschränktheit auf die eigene Wohnung, das Fehlen von Ausweichmöglichkeiten stauen sich Aggressionen. Experten für häusliche Gewalt kennen das als Phänomen an Feiertagen, an denen die Gewalt häufiger eskaliert – doch statt wenigen Tage geht es hier um Wochen.
Zudem sinkt die Hemmschwelle, zuzuschlagen, weil die Folgen der Gewalt noch unsichtbarer bleiben. Sonst werden blaue Flecken öffentlich, erscheinen Frauen wegen ihrer Verletzungen nicht zur Arbeit, tauchen Kinder nicht im Unterricht auf oder verhalten sich auffällig. Das alles fällt derzeit weg.
Kaum Gelegenheit zum Hilfesuchen
In der bundesdeutschen Polizeistatistik bildet sich das derzeit noch nicht vollständig ab. Die Zahlen sind uneinheitlich, nicht alle Dienststellen berichteten von einer Zunahme. Das gilt auch für die Beratungsstellen: „Wir haben aber auch keine Reduzierung. Das ist insofern bemerkenswert, als die Möglichkeiten, sich Hilfe zu suchen, für die Frauen derzeit stark eingeschränkt sind“, erklärt Grieger. „Und die, die sich melden, haben vergleichsweise noch grössere Sorgen als sonst.“
Steigende Zahlen erst nach Lockerung der Kontaktbeschränkung?
Man rechne damit, dass das wahre Ausmass erst bei Lockerung der Kontaktbeschränkungen zutage tritt, „das war in Wuhan so, und es erscheint auch hier plausibel“, sagt Grieger. Nicht nur die Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme seien beschränkt. Auch das Netzwerk, das sie ermutigen kann, Hilfe zu suchen, fällt weg.
Wenn sie jetzt Hilfe brauchen, telefonieren die Frauen heimlich im Bad, auf dem Weg zum Supermarkt oder nutzen die Gelegenheit, wenn der Mann die Wohnung kurz verlässt. „Die meisten Beratungsstellen haben darauf reagiert, indem sie die telefonischen Beratungszeiten erheblich ausgedehnt haben. So erreichen die Frauen jemanden, wenn sie einen unbeobachteten Moment finden“, sagt Grieger.
Umstellung auf Telefonberatung
Finden Beratungsgespräche sonst auch häufig von Angesicht zu Angesicht statt, läuft inzwischen das meiste telefonisch, online oder über Videotelefonat. Denn auch hier gilt es, den persönlichen Kontakt möglichst zu reduzieren. Viel Beraterinnen arbeiten aus dem Homeoffice. Sich da umzustellen, habe einiges an Organisationstalent erfordert.
Wie geholfen werden kann, muss im individuellen Gespräch geklärt werden. Ist die Situation akut? Reicht es, dem Gewalttäter ein Hausverbot zu erteilen, damit die Frau durchatmen kann? Oder ist eine Unterbringung im Frauenhaus notwendig?
Der Engpass kippt in den Mangel
Auch hier drohen nun die Versäumnisse der Vor-Corona-Zeit vom Engpass in die Mangelversorgung zu kippen: „Das gesamte Unterstützungssystem war schon vorher nicht gut aufgestellt“, sagt Grieger. Vielen fehlt selbst das Geld für datengeschützte Onlinetools und gute Telefonanlagen. Zudem sind die Frauenhäuser in Deutschland meist ausgelastet bis überbelegt.
In manchen Regionen zahlen die Behörden für eine Unterbringung in Hotels oder Ferienwohnungen. Doch dort gibt es nicht die gleichen Sicherheitsvorkehrungen gegen gewalttätige Partner wie in den Frauenhäusern.
Weniger Mitarbeiter, mehr Arbeit
Zudem braucht man für die externe Betreuung mehr Mitarbeiterinnen. Denn die verstörten Frauen und Kinder könne man nicht dort abladen und dann sich selbst überlasten. Die brauchen Ansprechpartnerinnen.
Personal ist aber in Zeiten von Corona zusätzlich reduziert: Auch hier befinden sich Mitarbeiterinnen in Quarantäne, gehören zu Risikogruppe und können daher nicht in den Aussendienst, erkranken an Covid-19 oder fallen aus anderen Gründen aus.
Zivilcourage ist gefragt
Daher sind Menschen aus dem Umfeld wie Kollegen, Freunde, Nachbarn aufgerufen, wachsam zu sein und Zivilcourage zu zeigen, wenn der Verdacht keimt, dass in einer Partnerschaft oder Familie Gewalt droht. Wie man in der konkreten Situation am besten vorgeht, auch darüber geben die Beratungsstellen telefonisch und persönlich Auskunft.
In akuten Gewaltsituationen, wenn Schreie und Lärm aus der Nachbarwohnung dringen, solle man seine Hemmungen überwinden und sich einmischen. „Dann raten wir in jedem Fall dazu, unter der Notfallnummer 110 die Polizei zu rufen“, sagt Grieger.
Die Polizei könne dann erst einmal den Tätern ein Hausverbot erteilen, was den Frauen eine Verschnaufpause verschaffe.
All das gilt nicht nur in Coronazeiten, sondern immer. Jede vierte Frau in Deutschland hat mindestens einmal im Gewalt in der Partnerschaft erlebt.
Hilfsangebote
- Kostenloses bundesweites Hilfetelefon in 17 Sprachen: Gewalt gegen Frauen:
0800/116016,
http://www.hilfetelefon.de - Frauen gegen Gewalt: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/erreichbarkeit-von-hilfsangeboten.html
- Weisser Ring: https://weisser-ring.de/praevention/tipps/haeusliche-gewalt
- Rat für Männer mit häuslichem Gewaltpotenzial: https://bundesforum-maenner.de/wp-content/uploads/2020/03/GZA_Merkblatt_Corona_DEUTSCH.pdf