„Weltmeister der Emotionen“
Der Regisseur David Sieveking hat einen Film über seine an Alzheimer erkrankte Mutter gedreht - einen Liebesfilm, sagt er im NetDoktor-Interview.
Herr Sieveking, Ihr Film „Vergiss mein nicht“ setzt vier Jahre nach den ersten Anzeichen von Alzheimer bei Ihrer Mutter ein. Da hält sie Sie für Ihren Ehemann und sich selbst für eine junge Frau, ihr tun Cocktailtomaten leid, und sie isst Aprikosen mit Butter. Wie ratlos waren Sie da?
Sehr ratlos und erschüttert zunächst. Aber es war glücklicherweise ein Zeitpunkt, an dem meine Mutter ihren Krankheitszustand nicht mehr so schwer genommen hat und nicht mehr so niedergeschlagen war. Sie hatte ihr Vergessen vergessen und haderte nicht mehr mit dem alten Selbstbild, dem alten Ich. Und sie hatte nicht das Gefühl, etwas nicht mehr zu können, was früher einmal ging. Sie sagte ganz einfach: ‚Ich kann das nicht, weil ich das nicht weiss.‘
Ihre Mutter Gretel, eine politisch aktive Person, verschwindet Schritt für Schritt aus der normalen Welt. Wie hat sie das selbst empfunden?
Dieses Gefühl, dass da ein schwarzes Loch im Kopf entsteht, hat sie selbst eine Zeit lang sehr unglücklich gemacht. Sie sagte ein paar Mal: ‚Ich verliere mich.‘ Sie hatte das Gefühl, dass sie sich auflöst. Das war eine schlimme depressive Phase vor dem Zeitpunkt der medizinischen Diagnose „Demenz“.
40 Jahre waren ihre Eltern verheiratet. Ihre Mutter sagt im Anblick der Hochzeitsbilder: „Wirklich? Das kann ich mir gar nicht vorstellen, das wäre ja vielleicht was!“
Ja, das ist schon eine extreme Erfahrung als Angehöriger, wenn eine Person, mit der man seine wichtigsten Erfahrungen geteilt hat, sich an entscheidende Episoden aus ihrem Leben nicht mehr erinnert. Immer wieder erklärte ich ihr, dass ich ihr Sohn David sei, und sie reagierte sehr ungläubig. Einmal habe ich ihr dann gesagt: „Ich bin dein Kind, du hast mich geboren‘, da sagte sie: ‚Ach was, du bist doch viel zu gross!‘ Das konnte ich schon nachvollziehen, ich stand ja als grosser, erwachsener Mann vor ihr. Meine Mutter blieb dabei immer charmant und freundlich, das hat es mir leichter gemacht, mich nicht zu ärgern, sondern mich unbefangen auf ihre Gedankenwelt einzulassen.
Bringt es denn etwas, wenn man Menschen mit Alzheimer immer wieder sagt, wie die Dinge sind?
Nein, das bringt eigentlich nichts, darauf zu pochen, wer man ist und alles gerade zu rücken. Ich bin dann in die Rolle meines Vaters geschlüpft und habe ihn zu Hause vertreten, damit er mal in den Urlaub fahren konnte. In der Zeit wurde ich in den Augen meiner Mutter zu ihrem Mann. Sie hat mich Leuten vorgestellt: ‚Das ist mein Mann‘. Sie hat mich auch mit Malte angeredet. Das war der letzte Name, den sie behalten hat. Das war dann mein Vater – oder eben ich. Sie schien sich wohlzufühlen mit ‚ihrem Mann‘, auch wenn ich das war. Warum sollte ich ihr das nehmen? Manchmal hatte ich morgens den Eindruck, ich müsste meiner Mutter nicht erklären, wer vor ihr steht. Und eine Stunde später sprach sie mich dann an: ‚Wer sind Sie denn? Was machen Sie hier?‘
Wenn man zu viel in die Vergangenheit schaut, sagen Sie, hat man keinen Blick für das Schöne, das noch möglich ist. Was ist Ihnen begegnet?
Ich glaube, man muss sich daran gewöhnen, dass da ein neuer Mensch entsteht. Und der hat nicht nur Defizite, sondern auch neue Qualitäten. Wenn man immer nur zurück guckt und vergleicht, wie der Mensch früher war, und was er früher konnte, belastet das zu sehr das Verhältnis in der Gegenwart. Man konnte mit meiner Mutter sehr viele schöne, glückliche und erfüllende Erlebnisse haben, zum Beispiel sind wir in der Schweiz auf einen Berg gefahren und sie war ganz begeistert. Das hat sie schon früher geliebt. Und in gewisser Hinsicht hatte sie uns auch etwas voraus, weil sie oft im Moment gelebt hat, eine gesteigerte Wahrnehmung hatte und Gefühle auf eine sehr schöne, direkte Art zum Ausdruck bringen konnte. Mein Vater meinte dazu, sie habe sich mehr um das Wesentliche gekümmert. Mir hat mal ein Arzt gesagt: ‚Demenzkranke sind Weltmeister der Emotionen.‘ Das kann ich nur unterschreiben.
Ihre Eltern haben immer grössten Wert auf Ihre Unabhängigkeit gelegt. Jetzt musste Ihr Vater Malte sein Leben ganz auf Ihre Mutter ausrichten. Warum funktionierte dieser Rollentausch?
Meine Eltern wollten schon früher nicht die bürgerlichen Lebensmodelle leben, die gesellschaftlich anerkannt waren. Mein Vater ist flexibel geblieben und hat sich gesagt: ‚Ich kann es auch jetzt ganz anders machen.'Er hat angefangen den Haushalt zu schmeissen, zu kochen, zu gärtnern und richtig häusliche Qualitäten entwickelt, was wir als Kinder gar nicht für möglich gehalten hätten. Die Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen, das war für ihn vielleicht ein viel grösseres Abenteuer als zu reisen oder im Ausland zu lehren und zu forschen. Das hatte er sich eigentlich vorgenommen – aber mein Vater hatte das ja schon sein Leben lang gemacht. Die Demenzerkrankung meiner Mutter hat ihm gezeigt, dass man Liebe und Partnerschaft noch ganz anders erleben kann, als er das gewohnt war.
Ihre Mutter wollte am liebsten liegen bleiben, dabei haben Ärzte und Therapeuten zu aller Art von Bewegung und Anregung geraten.
Als ich zum ersten Mal für längere Zeit nach Hause kam, hatte meine Mutter keinen grossen Antrieb mehr, etwas zu unternehmen. Am liebsten wollte sie schlafen und in Ruhe gelassen werden. Wir versuchten dann, eine Situation zu schaffen, in der sie wieder Lust aufs Leben hat.
Sie sind schon nach einer Woche Rundumbetreuung Ihrer Mutter völlig fertig gewesen und fragten sich, wie Ihr Vater das vier Jahre lang gemacht hat. Wie anstrengend ist so ein Alltag?
Die Pflege eines dementen Angehörigen ist eine Sisyphusarbeit, die wahnsinnig schlaucht. Einen Demenzkranken muss man zu allen Dingen anleiten, die er selbstständig nicht machen würde. Er kann zwar bis zum Endstadium theoretisch noch selber essen, aber man muss ihm ständig erklären, wie er das machen soll. Oder auch, dass er es eben nicht mehr tun soll, wenn er schon genug gegessen hat. Die normalen Körpergefühle wie Hunger und Sättigung sind ja bei vielen Demenzerkrankten ausser Kraft gesetzt.
Mein Problem war, dass ich ständig gegen den Willen meiner Mutter arbeiten musste, um sie sozusagen zu ‚ihrem Glück‘ zu zwingen. Das hatte meine Mutter gar nicht gern. Es ist unglaublich anstrengend, wenn man den ganzen Tag auf jemanden einreden muss, ständig im Konflikt ist und zudem noch innerlich traurig über die Situation. Da wäre es fast erholsamer, alles selber zu erledigen und jemanden zu füttern, anstatt zum Essen anzuleiten. Denn so klappt das auch in einer bestimmten Zeit. Aber ein Physiotherapeut sagte mir: ‚Wenn Ihre Mutter eine Tasse in den Schrank stellt, dann ist das für sie Gymnastik.’ Man muss in der Betreuung und Pflege die Balance finden: Jemand nicht zu überfordern, aber auch nicht zu unterfordern.
Drei gefährliche Szenen habe ich in Ihrem Film ausgemacht: Ihre Mutter hatte Panik, als sie schwimmen sollte: „Können wir irgendwo hin, wo wir nicht sterben?“, fragte sie den Kameramann. Und sie wollte nicht mehr aus dem ICE aussteigen, dafür aber bei 150 km/h auf der Autobahn. Wie gut sind Ihre Nerven?
Ich habe diese Situationen alle nicht als lebensbedrohlich empfunden, aber es war sicher nicht ganz ungefährlich. Ich finde aber, man sollte nicht aus übertriebener Vorsicht mit einem dementen Menschen zu Hause bleiben. Mit Kindern kann ja auch allerhand schief gehen, trotzdem schliesst man sie nicht zu Hause ein. Der Gewinn der Unternehmungslust war für mich überzeugend und überwog das Risiko bei Weitem. Meine Mutter war inspiriert und hatte Spass, in die Welt raus zu gehen.
Deshalb würde ich auch Leute ermuntern, zusammen einkaufen zu gehen, auch wenn mal eine peinliche Situation in der Öffentlichkeit entsteht. Ich finde, man begegnet viel zu wenigen Menschen mit Demenz draussen in der Stadt. Wo sind die eigentlich alle?, fragt man sich. In der Zeitung liest man ständig von ihnen, es sollen Millionen sein. Sind die alle hinter verschlossener Tür? So lernt jedenfalls niemand, wie er mit ihnen umgehen soll. Wenn man keine Berührungspunkte hat, hat man auch Berührungsängste.
Ihr Film zeigt eines nicht: nämlich wie aufreibend die Pflege eines Alzheimerkranken tatsächlich sein kann. Warum nicht?
Im Film wird nicht alles gezeigt, es ist ja auch kein Film über eine Demenz oder den Pflegealltag, sondern eine ganz individuelle Liebes- und Lebensgeschichte. Ich denke aber, dass trotzdem viele Aspekte, die mit der Demenz und Pflege zu tun haben, zumindest angedeutet werden. Für mich ist es eigentlich ein Film über eine Familie, die in eine Krise gerät und versucht damit umzugehen. Was passiert, wenn sich ein Mensch aus der Familienmitte stark verändert? Liegt in der Krise vielleicht auch eine Chance? Ich wollte zeigen, dass es in der jahrelangen Verschlechterung bei einer Demenz auch immer wieder ein Aufwärts gibt. Meine Eltern haben sich wie neu verliebt und auch ich habe die Beziehung zu meiner Mutter ganz neu erlebt.
Wie wichtig ist denn Humor in dem Film?
Sehr wichtig! Wir haben auch sehr viel gelacht mit meiner Mutter während ihrer Demenz. Oft stehen sich die Leute mit einer falschen Betroffenheit im Weg und verhindern, dass gute Laune entsteht, in der Befürchtung, man könnte irgendjemandem auf den Schlips treten. Man lacht vielleicht nicht immer über das Gleiche, aber dem Dementen ist mehr geholfen, wenn nicht alle betreten in der Ecke herumgucken und sich das Lachen verkneifen. Menschen mit Alzheimer sind nicht stumpf und eingeschlossen. Sie kriegen das nämlich sehr genau mit, auch wenn sie nicht mehr rhetorisch bewandert sind, und sich die Gesichtszüge nicht mehr so regen wie früher. Oft fand ich meine Mutter aufmerksamer als uns, die wir uns für gesund halten. Sie hat bei meinem Vater sofort erkannt, wenn er schlecht gelaunt war, während ich dachte: ‚Ach so? Stimmt eigentlich, da hat sie recht.’
Ihre 96-jährige Oma, die Mutter Ihres Vaters, stellte drei kritische Fragen: Soll das so weitergehen - darf man einen Menschen wie Malte so aufbrauchen - bringt das Ihrer Mutter überhaupt etwas. Wie berechtigt sind diese Fragen? Ihre Antworten im Film waren für mich …
Unbefriedigend.
Genau. Es erschien mir, als hätten Sie sich diese Fragen so konkret nicht gestellt.
Doch. Die Fragen war ja ein Impuls, den Film überhaupt zu machen. Ich dachte, jetzt haben wir bald zwei Pflegefälle, weil mein Vater bald zusammenklappt, wenn nichts passiert. Es ging ja darum, wie wir längerfristig Hilfe finden können. Ich wollte schliesslich nicht ewig bei meinen Eltern wohnen bleiben. Insofern sind die Fragen meiner Grossmutter natürlich sehr berechtigt. Man muss das zu Ende denken, ob meine Mutter tatsächlich etwas davon hat, wenn mein Vater sich für sie opfert. Ich glaube aber, dass diese Perspektive verkennt, wie viel sich mein Vater selbst aus der Erfahrung herausgezogen hat. Aber das ging auch nur, weil er sich Hilfe gesucht hat, sonst hätte ihm wohl die Kraft gefehlt. Im Nachhinein sagt er, er hätte das schon ein Jahr früher machen sollen. Zum Glück bekamen wir tatkräftige Unterstützung von einer Pflegehilfe zu Hause.
Man darf keinen Raubbau an sich begehen, das ist fahrlässig, aber es passiert ja oft in der häuslichen Pflege – bestimmt auch in Pflegeheimen. Meine Grossmutter hat das aber sehr auf den Punkt gebracht, was einem zwar im Kopf herumgeistert, aber man gar nicht auszusprechen wagt. Sie sorgte für eine Aussprache unter uns – um die Ecke sozusagen.
Die meisten Menschen erleben mit Ihren demenzkranken Liebsten eine völlig andere Realität mit Wut, Aggressivität und Hilflosigkeit – wie können sie auch die Liebe entdecken?
Wenn sich ein Mensch so stark verändert, dann muss sich das Umfeld auch verändern, damit es nicht in eine Katastrophe mündet. Man sollte offen sein für Dinge, die neu sind, und sich nicht nur auf das fokussieren, was nicht mehr geht. Der Umgang in unserer Familie, der sich durch die Demenz meiner Mutter ergab, existierte vorher so gar nicht. Meine Eltern waren nie sehr kuschelig miteinander, wir haben uns auch nicht oft in den Armen gelegen. So etwas kann aber ein Mensch einfordern, der nicht mehr reden kann.
Wenn man eine Demenzdiagnose nur als Albtraum verbucht, hat man keinen Raum auch für positive Veränderungen. Für mich haben sich viele Sachen, die ein anderer vielleicht für ganz schrecklich hält, gar nicht so schlimm angefühlt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn mich meine Mutter fragte, wer ich sei, und ich ihr erklärte: ‚Ich bin dein Sohn David’, dann antwortete sie: ‚Oh, das wäre aber schön!‘ Sie blieb sehr freundlich und hat einem sehr sensibel ihre Auffassung der Situation angetragen. Da konnte ich schwer traurig sein oder böse werden. Das war wie eine Einladung, sie hätte wohl nichts dagegen, wenn ich ihr Sohn wäre. Das ist doch sehr charmant, finden Sie nicht?
Auf jeden Fall, Herr Sieveking, wir danken Ihnen sehr herzlich für das Gespräch.
Das Interview führte Ingrid Müller.