Wernicke-Enzephalopathie

Von Torben Riener
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Die Wernicke-Enzephalopathie ist eine Erkrankung des Gehirns, die Menschen mit Vitamin B1-Mangelernährung betrifft. Häufig sind dies Alkoholkranke oder Menschen mit gestörtem Essverhalten. Zu den Symptomen zählen etwa Unruhe, Desorientiertheit, Koordinations-, Gedächtnis- und Sehstörungen. Lesen Sie hier mehr über die Wernicke-Enzephalopathie.

Wernicke-Enzephalopathie durch Alkoholmissbrauch und Mangelernährung

Kurzübersicht

  • Diagnose: Krankengeschichte, insbesondere bezüglich Alkoholmissbrauch oder Essstörungen, anhand der Symptome, Magnetresonanztomografie des Kopfes, Hirnströme, Blutuntersuchung (Vitamin-B1-Spiegel)
  • Symptome: Neurologische Ausfälle, Störungen der Bewegungskoordination, Gangunsicherheit, Sehstörungen, psychische Ausfallerscheinungen, Orientierungslosigkeit, Verwirrtheit, Unruhe, Zittern, grosses Schlafbedürfnis
  • Ursachen und Risikofaktoren: Vitamin-B1-Mangel durch Mangelernährung, oft sind Alkoholmissbrauch oder Essstörungen, seltener Stoffwechselerkrankungen
  • Behandlung: Gabe von Vitamin-B1-Präparaten einmalig höher dosiert und über einen längeren Zeitraum niedriger, eventuell vorbeugende Gabe
  • Prognose:Unbehandelt führt die Wernicke-Enzephalopathie oft zum Tod; mit Behandlung gehen viele Symptome zurück, bleibende neurologisch-motorische oder psychische Schädigungen sind möglich
  • Vorbeugen: Bei bekanntem Risiko vorbeugende Gabe von Vitamin B1; frühzeitige Behandlung von Risikofaktoren wie Alkoholismus oder Essstörungen

Was ist die Wernicke-Enzephalopathie?

Die Wernicke-Enzephalopathie ist eine nach dem Mediziner Carl Wernicke benannte Erkrankung des Gehirns. Der medizinische Begriff "Enzephalopathie" steht übergreifend für Krankheiten oder Schädigungen, die das ganze Gehirn betreffen (griechisch enképhalos = Gehirn, altgriechisch pátheia = Leiden). Die Wernicke-Enzephalopathie tritt meist infolge einer anhaltenden Unter- oder Mangelernährung auf, häufig bei alkoholkranken Menschen oder Menschen mit gestörtem Essverhalten. Es handelt sich dabei um einen Vitamin-B1-Mangel (Thiamin).

Als Folge der Wernicke-Enzephalopathie treten verschiedene Krankheitszeichen auf, die das Nervensystem betreffen (neurologische Symptome). Zusammen mit einer Wernicke-Enzephalopathie tritt oft das sogenannte Korsakow-Syndrom auf – das gemeinsame Auftreten mehrerer typischer Symptome (zum Beispiel Störungen des Kurz- oder Langzeitgedächtnisses, Fabulieren). Häufig sprechen Mediziner dann von einem Wernicke-Korsakow-Syndrom.

Wird die Wernicke-Enzephalopathie schnell behandelt, beeinflusst das den weiteren Krankheitsverlauf positiv – unbehandelt ist ein tödlicher Verlauf möglich. Deshalb ist es wichtig, umgehend einen Arzt aufzusuchen, wenn Betroffene selbst oder deren Angehörige neurologische Auffälligkeiten wie beispielsweise Seh- oder Koordinationsstörungen bemerken. Das gilt besonders, wenn Risikofaktoren für eine Wernicke-Enzephalopathie wie Alkoholprobleme oder Essstörungen vorliegen.

Wie kann Wernicke-Enzephalopathie festgestellt werden?

Stellt sich ein Patient mit den klassischen Symptomen einer Wernicke-Enzephalopathie beim Arzt vor, ergibt sich für diesen eventuell bereits durch die Schilderungen des Patienten und gezieltes Nachfragen der Verdacht auf eine Wernicke-Enzephalopathie. Da bei deren Behandlung Zeit ein wichtiger Faktor ist, ist es ratsam, diese bereits bei einem bestehenden Verdacht und vor dem hundertprozentigen Feststehen der Diagnose einzuleiten.

Um eine Wernicke-Enzephalopathie sicher zu diagnostizieren, veranlasst der Arzt eine umfassende Blutuntersuchung, um den Vitamin-B1-Spiegel und weitere relevante Blutwerte zu bestimmen. Zusätzlich führt der Arzt eine Messung der Hirnströme (Elektroenzephalografie, EEG) eine Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit (Liquorpunktion) und eine Kernspintomografie (Computertomografie, CT, und Magnetresonanztomografie, MRT) des Kopfes durch, um die Diagnose zu erhärten und andere Erkrankungen als Ursache für die Symptome auszuschliessen.

Mit einer zusätzlichen Blutuntersuchung nach dem Beginn der Behandlung mit Vitamin B1 bestätigt der Mediziner die Diagnose Wernicke-Enzephalopathie endgültig: Weichen die Werte für bestimmte Blutmarker, die auf einen Vitamin-B1-Mangel hinweisen, stark von den Werten der ersten Blutuntersuchung ab, ist dies der "Beweis", dass tatsächlich eine Wernicke-Enzephalopathie vorliegt.

Welche Symptome treten auf?

Bei einer Wernicke-Enzephalopathie ist es möglich, dass das gesamte Gehirn in seiner Funktion beeinträchtigt ist. Dementsprechend ruft sie in vielen Fällen schwere Symptome hervor. So haben Betroffene häufig Schwierigkeiten, ihre Bewegungen wie gewohnt zu koordinieren. Dies äussert sich zum Beispiel darin, dass sie Schwierigkeiten beim Gehen und/oder Stehen haben.

Hinzu kommen oftmals Sehstörungen, die aus Problemen mit der Augenkoordination und der Bewegung der Augenmuskeln resultieren. Zudem haben Menschen mit einer Wernicke-Enzephalopathie häufig einen schnelleren Herzschlag, eine erniedrigte Körpertemperatur und ein übergrosses Schlafbedürfnis.

Weiterhin macht sich eine Wernicke-Enzephalopathie meist im Verhalten und im psychischen Befinden von Betroffenen bemerkbar. Mediziner und Angehörige beschreiben Patienten mit Wernicke-Enzephalopathie als äusserst unruhig, psychisch verwirrt und orientierungslos.

Oft sind die Patienten nicht mehr in der Lage, klar zu denken, Informationen aufzunehmen und/oder diese zu behalten. Zudem tritt häufig ein sogenannter Tremor auf, welcher sich durch Zittern, beispielsweise der Hände, äussert.

Haben Betroffene zusätzlich zu den genannten Symptomen Probleme damit, den eigenen Aufenthaltsort zu erkennen, diagnostizieren Mediziner das Wernicke-Korsakow-Syndrom: Ein Patient im Krankenhaus gibt dann beispielsweise auf Nachfrage an, im Wartezimmer eines Anwalts zu sitzen.

Gedächtnislücken versuchen Personen mit einem Wernicke-Korsakow-Syndrom häufig mit erfundenen Sachverhalten zu überspielen beziehungsweise zu vertuschen. Zudem ist die Gedächtnisleistung bei einem Korsakow-Syndrom nochmals deutlich verschlechtert.

Ursachen und Risikofaktoren

Die Ursache für eine Wernicke-Enzephalopathie ist eine mangelhafte Versorgung des Gehirns mit Vitamin B1 (Thiamin). Eventuell gibt es zusätzlich erbliche Faktoren, die das Risiko erhöhen, bei einem Vitamin-B1-Mangel eine Wernicke-Enzephalopathie zu entwickeln. Dies ist jedoch bislang nicht abschliessend geklärt.

Der dauerhafte Mangel an Vitamin B1, das eine wichtige Rolle unter anderem im Energiestoffwechsel der Zelle spielt, schädigt die Nervenzellen des Gehirns, wodurch diese zunehmend beeinträchtigt werden und schliesslich absterben. Dies führt dann meist dazu, dass das Gehirn bestimmte Aufgaben, zum Beispiel die Bewegungs- oder Augenkoordination, nicht mehr wie gewohnt erfüllt.

Für eine Unterversorgung mit Vitamin B1 sind verschiedene Gründe möglich. Häufig führt eine Mangel- oder Unterernährung, wie sie oftmals bei alkoholkranken Menschen oder bei Menschen mit Essstörungen auftritt, zu einem Vitamin-B1-Mangel. Stark alkoholabhängige Menschen decken teilweise ihren kompletten Energiebedarf über alkoholische Getränke, wodurch es zwangsläufig zu Mangelerscheinungen – nicht nur von Vitamin B1 – kommt.

Menschen mit Essstörungen, die über lange Zeiträume eine sehr strenge Diät bis hin zum völligen Nahrungsverzicht einhalten und/oder die aufgenommene Nahrung wieder erbrechen, nehmen häufig ebenfalls viel zu wenig beziehungsweise gar kein Vitamin B1 auf.

Es gibt jedoch noch weitere, im Vergleich eher seltene Ursachen für eine Wernicke-Enzephalopathie: So tritt ein kritischer Vitamin-B1-Mangel gelegentlich bei Menschen auf, die über Infusionen ernährt werden. Zudem führen unter anderem Erkrankungen der Niere, bösartige Veränderungen des Magen-Darm-Traktes sowie Tuberkulose-Infektionen dazu, dass der Körper nicht mehr ausreichend Thiamin aufnimmt. In der Folge kommt es dann unter Umständen ebenfalls zu einer Wernicke-Enzephalopathie.

Es sind auch Fälle bekannt, bei denen ein Fehler bei der Produktion von Babynahrung (etwa in Israel im Jahr 2003) in der das Vitamin B1 fehlte, zu einer Wernicke-Enzephalopathie bei Säuglingen führte.

Behandlung

Hat der Arzt den Verdacht auf eine Wernicke-Enzephalopathie, beginnt er umgehend mit der Therapie. Diese besteht aus einer einmaligen hochdosierten Injektion von Vitamin B1 und darauf folgend weiteren täglichen Vitamin-B1-Injektionen, die etwas niedriger dosiert sind. Die Injektionen enden in der Regel, sobald sich der Patient gesundheitlich stabilisiert hat.

Wenn die Gefahr besteht, dass ein Patient in Zukunft erneut einen starken Vitamin-B-Mangel entwickelt, empfiehlt der Arzt in der Regel vorbeugend die Einnahme von Vitamin-B1-Präparaten. Dieses Risiko besteht vor allem dann, wenn die zugrundeliegende Ursache der Wernicke-Enzephalopathie weiterhin bestehen bleibt.

Deshalb ist es wichtig, Risikofaktoren wie eine Alkoholabhängigkeit oder Essstörungen zu behandeln. Wenn der Grund für die Wernicke-Enzephalopathie unklar ist, wird der Arzt versuchen, weitere mögliche Ursachen wie bösartige Veränderungen im Magen-Darm-Trakt, Nierenerkrankungen oder Infektionen auszuschliessen.

Krankheitsverlauf und Prognose

Bei der Wernicke-Enzephalopathie ist es entscheidend, wie schnell die Behandlung erfolgt. Bei einer rechtzeitigen Behandlung gehen viele Symptome wie Sehstörungen und Bewusstseinstrübungen meist innerhalb kurzer Zeit wieder zurück. Bewegungsstörungen brauchen in der Regel mehrere Wochen, bis sie verschwinden. In rund vier von zehn Fällen bleiben dauerhaft motorische Einschränkungen bestehen, drei Viertel der Patienten behalten psychische Beeinträchtigungen zurück.

Für mehr als zehn Prozent der Betroffenen endet eine Wernicke-Enzephalopathie trotz rechtzeitiger Therapie tödlich. Die Ursache hierfür sind oftmals Herz-Kreislauf-Probleme oder Infektionen, die durch die Krankheit ausgelöst beziehungsweise begünstigt wurden. Wird eine Wernicke-Enzephalopathie nicht behandelt, fallen erkrankte Personen innerhalb von ein bis zwei Wochen ins Koma und versterben.

Vorbeugen

Einer Wernicke-Enzephalopathie lässt sich vorbeugen, indem man bekannte Risikofaktoren behandelt. Hierzu zählen vor allem Alkoholismus und Essstörungen. Gefährdete Menschen sollten mit ihrem Arzt klären, ob die vorbeugende Einnahme von Vitamin-B1-Präparaten für sie empfehlenswert ist.

Bekannt alkoholkranke und/oder mangelernährte Menschen, die im Krankenhaus über Infusionslösungen ernährt werden, sollten mit ihren Infusionen auch Vitamin B1 erhalten, um einen infusionsbedingten Mangel zu vermeiden.

Bei normaler Lebensweise entsteht kein ernährungsbedingter Vitamin-B1-Mangel, der zu einer Wernicke-Enzephalopathie führt. Vitamin B1 ist in vielen pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln enthalten, der Tagesbedarf liegt bei rund einem Milligramm pro Tag, abhängig von Alter und Geschlecht.

Autoren- & Quelleninformationen

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Wissenschaftliche Standards:

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

ICD-Codes:
E51F10
ICD-Codes sind international gültige Verschlüsselungen für medizinische Diagnosen. Sie finden sich z.B. in Arztbriefen oder auf Arbeitsunfähigkeits­bescheinigungen.
Quellen:
  • Fattal-Valevski, A. et al.: "Outbreak of life-threatening thiamine deficiency in infants in Israel caused by a defective soy-based formula."; Pediatrics. Band 115, Nr. 2, Februar 2005, S. e233-e238
  • Grehl, H. et al.: Checkliste Neurologie. Thieme Verlag, 7. Auflage, 2021
  • Hacke, W.: Neurologie. Springer Medizin Verlag, 14. Auflage 2016
  • Klingelhöfer, J. et al.: Klinikleitfaden Neurologie Psychiatrie. Urban & Fischer Verlag, 7. Auflage, 2020
  • Urban, P.: Erkrankungen des Hirnstamms. Schattauer Verlag 2009
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