Geschlechtsdysphorie

Von , Medizinredakteurin und Biologin
Martina Feichter

Martina Feichter hat in Innsbruck Biologie mit Wahlfach Pharmazie studiert und sich dabei auch in die Welt der Heilpflanzen vertieft. Von dort war es nicht weit zu anderen medizinischen Themen, die sie bis heute fesseln. Sie ließ sich an der Axel Springer Akademie in Hamburg zur Journalistin ausbilden und arbeitet seit 2007 für NetDoktor (zwischenzeitlich als freie Autorin).

Alle NetDoktor.ch-Inhalte werden von medizinischen Fachjournalisten überprüft.

Menschen mit Geschlechtsdysphorie (Genderdysphorie) leiden anhaltend und stark darunter, dass sie sich nicht (komplett) ihrem Geburtsgeschlecht zugehörig fühlen. Trotz Penis beziehungsweise Brüsten identifizieren sie sich mit dem jeweils anderen Geschlecht – oder mit keinem der beiden Geschlechter (non-binär). Lesen Sie hier, was die Merkmale und Ursachen der Geschlechtsdysphorie sind, wie sie diagnostiziert wird und was sich gegen den Leidensdruck der Betroffenen tun lässt.

Mann betrachtet sich im Spiegel

Geschlechtsdysphorie: Definition

Will man den Begriff Geschlechtsdysphorie (Genderdysphorie, unscharf: Geschlechterdysphorie) verstehen, muss man zuerst wissen, was Geschlechtsinkongruenz ist:

Inkongruenz bedeutet „mangelnde Übereinstimmung“. Demnach spricht man von Geschlechtsinkongruenz, wenn bei einem Menschen die körperlichen Geschlechtsmerkmale (Geburtsgeschlecht, Zuweisungsgeschlecht) nicht mit der Geschlechtsidentität – also dem empfundenen Geschlecht beziehungsweise der empfundenen Geschlechtszugehörigkeit – übereinstimmen.

Kurz gesagt: Manche Menschen, die mit einem Penis geboren wurden, fühlen sich trotzdem als Mädchen/Frau und nicht als Junge/Mann. Umgekehrt empfinden sich manche Menschen mit Busen und Vagina als männlich statt als weiblich. Oder die Betroffenen identifizieren sich weder eindeutig mit dem männlichen noch mit dem weiblichen Geschlecht (non-binär).

Eine Geschlechtsinkongruenz ist keine Krankheit. Manche Menschen empfinden sie auch nicht als belastend, sondern kommen gut mit dem Widerspruch zwischen dem zugewiesenen und dem empfundenen Geschlecht zurecht.

Andere dagegen leiden unter der Geschlechtsinkongruenz – Experten sprechen dann von Geschlechtsdysphorie.

Anhaltender Leidensdruck

Konkret heisst das: Eine Geschlechtsdysphorie liegt vor, wenn jemand anhaltend darunter leidet:

    • sich nicht (nur) dem Geschlecht zugehörig zu fühlen, das den eigenen körperlichen Geschlechtsmerkmalen entspricht, und/oder
    • von anderen als Mann/Frau wahrgenommen zu werden, obwohl das nicht der eigenen Geschlechtsidentität entspricht.

Dieser Leidensdruck hat Krankheitswert. Zudem kann er auch noch verschiedene psychische Probleme verursachen (siehe Symptome).

Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit Geschlechtsdysphorie die richtige Hilfe und Unterstützung erhalten. Das kann zum Beispiel in Form einer Psychotherapie geschehen, eventuell auch mit medizinischen Massnahmen, um den Körper an die eigene Geschlechtsidentität anzupassen (siehe Behandlung).

Stichwort Trans

Menschen mit Geschlechtsinkongruenz verwenden für sich selbst oftmals Begriffe wie Transgender, Transidentität, Transgeschlechtlichkeit, kurz Trans* oder Trans, auch in adjektivischer Form: trans. Der Begriff Transsexualität gilt mittlerweile international als überholt. Er rückt scheinbar einen sexuellen Aspekt in den Mittelpunkt. Trans umfasst jedoch alle Aspekte des Selbstbildes.

Mehr zum Thema lesen Sie in unserem Beitrag Transsexualität.

Stichwort Inter*

Der Begriff Inter* (Intergeschlechtlichkeit, Intersexualität) steht für Menschen mit Varianten der körperlichen Geschlechtsentwicklung: Ihr Körper weist sowohl männliche als auch weibliche Merkmale (Geschlechtschromosomen, Geschlechtshormone, Geschlechtsorgane) auf.

Unabhängig davon ist die Geschlechtsidentität von intergeschlechtlichen Menschen: Manche fühlen sich als klar weiblich oder männlich, andere geben ihre Geschlechtsidentität als non-binär, trans oder inter* an.

Mehr zum Thema lesen Sie in unserem Beitrag Intersexualität.

Trans gilt nicht mehr als psychische Störung

Ob ein Zustand als krank oder normal eingestuft wird, hängt auch vom Zeitgeist ab. Dieser spiegelt sich in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (engl. International Classification of Diseases, ICD) wider, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird.

Am 1. Januar 2022 ist die komplett überarbeitete 11. Version dieser Klassifikation, die ICD-11, global in Kraft getreten.

Ihr Vorgänger, die ICD-10, verwendet noch den Begriff Transsexualismus. Sie ordnet ihn als „Störung der Geschlechtsidentität“ dem Kapitel der psychischen Störungen zu – genauer gesagt den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Damit wird diese Identitätsform als krankhaft bewertet.

Das hat sich mit der ICD-11 geändert:

  • Zum einen ist hier von Geschlechtsinkongruenz anstelle von Transsexualismus die Rede.
  • Zum anderen wurde diese aus dem Kapitel der psychischen Störungen herausgenommen und in dem neuen Kapitel „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ angesiedelt.

Derzeit gilt in den WHO-Mitgliedsstaaten eine flexible Übergangsfrist von mindestens fünf Jahren, um die Einführung des überarbeiteten Klassifikationssystems vorzubereiten.

Wann die ICD-11 endgültig die ICD-10 in den einzelnen Ländern ablösen wird, steht noch nicht fest. Das hängt unter anderem davon ab, wie schnell eine offizielle Übersetzung in die jeweilige Landessprache vorliegt. Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird derzeit noch über die ICD-10 abgerechnet.

Geschlechtsdysphorie: Symptome

Wie Betroffene die Unstimmigkeit zwischen ihrem biologischen Geschlecht und ihrer Geschlechtsidentität im Einzelfall wahrnehmen, variiert. Möglich sind zum Beispiel folgende „Anzeichen“:

  • das tiefe Empfinden, zwar äusserlich ein Mann oder eine Frau zu sein, sich aber gar nicht als solcher beziehungsweise solche zu fühlen
  • die Ablehnung des eigenen Körpers und das starke Verlangen, die als nicht stimmig empfundenen Geschlechtsmerkmale (wie Penis, Adamsapfel, Brüste, Vulva, Vagina) loszuwerden
  • der starke Wunsch nach den „fehlenden“ Geschlechtsmerkmalen
  • das starke Verlangen, vom Umfeld so angesehen und behandelt zu werden, wie es der eigenen Geschlechtsidentität entspricht (z.B. als Mann, als Frau oder als non-binäre Person)

Damit Mediziner die Diagnose Genderdysphorie stellen können, müssen diese Empfindungen über längere Zeit bestehen (siehe Diagnose) und mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden sein.

Der Anblick des „falschen“ Körpers im Spiegel, die Zuordnung des als fremd empfundenen Geschlechts durch das soziale, schulische oder berufliche Umfeld, Unverständnis bei Mitmenschen für die eigene Geschlechtsidentität, diskriminierende und Gewalterfahrungen – all das kann Betroffene stark belasten.

Begleitende psychische Störungen

Manche Menschen mit Geschlechtsinkongruenz / Geschlechtsdysphorie leiden zusätzlich unter psychischen Problemen oder Störungen. Diese treten bei ihnen häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung, zeigen Studien. Zu diesen psychischen Leiden zählen:

Solche psychischen Probleme sind meist die Folge der Geschlechtsdysphorie. Die belastende Diskrepanz zwischen dem biologischen und dem empfundenen Geschlecht – oft gepaart mit belastenden Erfahrungen im Alltag – lässt einige Betroffene psychisch erkranken.

Manchmal ist eine psychische Erkrankung auch ein anfangs erfolgreicher (unbewusster) Weg, mit der Geschlechtsdysphorie zurecht zu kommen. So kann etwa eine Magersucht bei Heranwachsenden der Versuch sein, die Entwicklung des Körpers in Richtung des unerwünschten Geschlechts (Bartwuchs, Eintritt der Regelblutung etc.) aufzuhalten.

Seltener bestehen Depression, Angststörung & Co. unabhängig von der Genderdysphorie. Sie treten dann aufgrund anderer Faktoren gleichzeitig mit ihr auf oder gehen ihr voraus (z.B. eine Psychose, bei der Betroffene im Wahn ihre eigene Geschlechtszugehörigkeit verkennen).

Geschlechtsdysphorie: Ursachen

Bislang weiss man nicht, warum manche Menschen eine Geschlechtsdysphorie entwickeln – sei es bereits im Kindesalter oder erst später. Experten gehen davon aus, dass hierbei verschiedene Faktoren mitwirken.

Am wahrscheinlichsten scheint inzwischen, dass die Geschlechtsidentität bereits vor der Geburt angelegt wird. Denkbar sind genetische Faktoren und/oder hormonelle Einflüsse während der Entwicklung.

Ob eine so entstandene Abweichung von empfundenem und zugewiesenem Geschlecht aber auch starken Leidensdruck UND DAMIT eine Geschlechtsdysphorie auslöst, hängt von weiteren individuell-psychischen Faktoren sowie familiären und soziokulturellen Einflüssen ab.

Keiner dieser Faktoren allein kann also eine Geschlechtsdysphorie verursachen. Erst aus dem Zusammenspiel entwickelt sich bei manchen Menschen die Diskrepanz zwischen empfundenem und zugewiesenem Geschlecht, glauben Experten.

Wenn sich in der Pubertät plötzlich Symptome einer Geschlechtsdysphorie entwickeln, sprechen Experten von „rapid-onset gender dysphoria“. Die Ursachen dieser schnell einsetzenden Genderdysphorie sind ebenfalls unbekannt.

Geschlechtsdysphorie: Diagnose

Ob jemand geschlechtsinkongruent ist und darunter leidet (Geschlechtsdysphorie), lässt sich mit keinem medizinischen oder psychologischen Test feststellen. Schliesslich geht es hier um das eigene Empfinden.

Betroffene können also nur selbst herausfinden, ob sie sich unabhängig von der eigenen Biologie einem anderen Geschlecht oder keinem Geschlecht zugehörig fühlen – und wie sehr ihnen das zu schaffen macht und welche persönlichen Folgen sich daraus ergeben.

Mit Offenheit und Respekt können erfahrene Mediziner und Therapeuten Betroffene bei diesem Prozess unterstützen.

Ganzheitlicher Blick auf Betroffene

Für ein möglichst ganzheitliches Bild erfragen und sammeln Mediziner / Therapeuten Informationen aus verschiedensten Lebensbereichen der Betroffenen. Dazu zählen etwa:

  • wichtige Entwicklungsschritte vor, während und ggf. nach der Pubertät
  • bisherige Körper- und Beziehungserfahrungen
  • Coming-out-Erfahrungen, Reaktionen im sozialen Umfeld (z.B. Familie, Freundeskreis)
  • evtl. Erfahrungen mit Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität
  • Lebenssituation, also Wohnsituation, schulische oder berufliche Situation, Partnerschaft etc.
  • biografische Daten (v.a. belastende Lebensereignisse, familiäre Beziehungen)
  • Zukunftsperspektiven, etwa hinsichtlich Familienplanung und Kinderwunsch
  • evtl. Vorerkrankungen
  • evtl. Hinweise auf Varianten der körperlichen Geschlechtsentwicklung
  • psychisches Befinden (mittels standardisierter Methoden)

Mediziner beziehungsweise Therapeuten versuchen auch zu ermitteln, ob die Geschlechtsinkongruenz / Geschlechtsdysphorie konstant seit einigen Monaten besteht, vorübergehend ist oder mit Unterbrechungen (intermittierend) vorliegt. Das ist nämlich auch möglich.

Nicht relevant für die Diagnose Geschlechtsdysphorie sind Fragen zur sexuellen Orientierung! Sie kann – wie bei allen anderen Menschen auch – in alle Richtungen gehen.

Orientierung an DSM-5

Mediziner / Therapeuten können sich bei der Diagnose Geschlechtsdysphorie am DSM-5 orientieren. Das ist die fünfte (und derzeit gültige) Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (laut derzeit noch vielfach angewandter ICD-10 wird Transsexualismus noch den psychischen Störungen zugeordnet, in der neuen Version ICD-11 nicht mehr).

Demnach stützt sich die Diagnose Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen und Erwachsenen auf zwei Punkte:

1. Ausgeprägte Diskrepanz zwischen dem empfundenen und dem zugewiesenen Geschlecht seit mindestens sechs Monaten: Für diese Diskrepanz sind im DSM-5 sechs Einzelkriterien angeführt, von denen mindestens zwei erfüllt sein müssen:

  • ausgeprägte Diskrepanz zwischen dem empfundenen Geschlecht und den primären Geschlechtsmerkmalen wie Eierstöcke, Penis und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen wie Brüste, Bart (bei Jugendlichen: den erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmalen)
  • ausgeprägtes Verlangen, die eigenen primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmale loszuwerden (bei Jugendlichen: die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale zu verhindern)
  • ausgeprägtes Verlangen nach den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen des anderen Geschlechts
  • ausgeprägtes Verlangen, dem anderen Geschlecht (männlich/weiblich) oder einem alternativen Geschlecht anzugehören
  • ausgeprägte Überzeugung, die typischen Gefühle und Reaktionsweisen des anderen Geschlechts (männlich/weiblich) oder eines alternativen Geschlechts aufzuweisen

2. Klinisch relevantes Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen

Wie geht es weiter?

Steht die Diagnose Geschlechtsdysphorie (und eventuell begleitender psychischer Störungen) fest, geht es darum, die weiteren Schritte zu planen. Ausschlaggebend sind dafür die Bedürfnisse des/der Betroffenen.

Wichtige Punkte sind etwa:

  • Soll bei einem/einer Heranwachsenden die unerwünschte Pubertätsentwicklung mit Medikamenten (Pubertätsblockern) aufgehalten werden?
  • Ist eine Geschlechtsangleichung gewünscht? Wenn ja, mit welchen Massnahmen in welcher Reihenfolge (z.B. Brustamputation, Hodenentfernung)?
  • Ist eine Psychotherapie sinnvoll (etwa bei der Klärung solcher Fragen) oder sogar notwendig (z.B. bei psychischen Störungen)?

An solchen Parametern orientiert sich der individuelle Behandlungsplan bei Geschlechtsdysphorie.

Geschlechtsdysphorie: Behandlung

Die richtige Unterstützung kann Menschen mit Geschlechtsdysphorie entscheidend dabei helfen, ihren eigenen Weg im Umgang mit der Diskrepanz zwischen biologischem und empfundenem Geschlecht zu finden. Wie diese Unterstützung am besten aussieht, hängt vom Einzelfall ab.

Der erste Schritt ist oft eine Beratung durch kompetente Ansprechpartner, etwa bei einschlägigen Beratungsstellen. Auch eine Psychotherapie kann bei Geschlechtsdysphorie sinnvoll sein.

Weitere mögliche Massnahmen sind eine Pubertätsblockade (bei Kindern und Jugendlichen) und eine Geschlechtsangleichung (etwa mit Hormonbehandlung und/oder Operationen).

Beratung

Kompetente Ansprechpartner rund um das Thema Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie findet man etwa bei Trans*organisationen und communitybasierten Beratungsstellen.

Im Rahmen einer informativen Beratung kann man sich dort zum Beispiel über rechtliche Themen (wie Namensänderung) oder allgemein über verschiedene Behandlungsmöglichkeiten bei Geschlechtsdysphorie (einschliesslich ihrer Risiken) aufklären lassen.

Über solche Organisationen und Beratungsstellen erhält man oft auch Kontaktdaten zu einschlägigen Selbsthilfegruppen, die Betroffenen und/oder ihren Angehörigen (z.B. den Eltern) offenstehen.

Die Beratung kann sich auch auf psychologische Themen fokussieren (Interventionsberatung) – etwa wenn jemand mit dem zugewiesenen Geschlecht hadert und auf der Suche nach der eigenen Geschlechtsidentität ist. Auch in schwierigen Lebenssituationen (etwa in der Schule oder Familie) können einfühlsame Berater ein offenes Ohr und Unterstützung bieten.

Psychotherapie

Eine Geschlechtsdysphorie an sich erfordert keine Psychotherapie. Sinnvoll ist eine solche Therapie aber beispielsweise, wenn Betroffene:

  • überhaupt nicht damit zurechtkommen, dass der eigene Körper das „falsche“ Geschlecht hat (evtl. verbunden mit Minderwertigkeitsgefühlen, Schuld- oder Schamgefühlen)
  • Unterstützung bei der Entwicklung der eigenen Identität brauchen
  • Unterstützung bei Entscheidungsprozessen benötigen (z.B. hinsichtlich einer Geschlechtsangleichung)
  • Unterstützung nach einer Geschlechtsangleichung (etwa mittels Hormonbehandlung) brauchen
  • Probleme in der Familie, Partnerschaft oder mit der eigenen Elternrolle haben
  • mit Diskriminierung im Alltag konfrontiert sind

Vor allem ist eine Psychotherapie bei begleitenden psychischen Problemen wie Ängsten oder Depressionen ist angezeigt.

Eine Geschlechtsdysphorie ist komplex. Die psychotherapeutisch tätige Person sollte daher möglichst viel Erfahrung mit der Thematik haben!

Damit eine Psychotherapie erfolgreich sein kann, muss zudem ein Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut/Therapeutin und Klient/Klientin bestehen. Es ist also wichtig für Hilfesuchende, dass sie den „richtigen“ Therapeuten oder die „richtige“ Therapeutin für sich finden.

Pubertätsblockade bei Kindern und Jugendlichen

Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie erhalten unter Umständen sogenannte Pubertätsblocker (wie Leuprorelin).

Diese Medikamente schieben die Pubertät hinaus. Damit gewinnen die Heranwachsenden Zeit, sich über ihre Geschlechtsidentität definitiv klar zu werden und sich gegebenenfalls endgültig für oder gegen eine Geschlechtsangleichung (und in welcher Art) zu entscheiden.

Mehr zum Thema lesen Sie in unserem Beitrag Pubertätsblocker.

Geschlechtsangleichung (körpermodifizierende Behandlungen)

Körpermodifizierende Behandlungen zielen darauf ab, den Körper mit dem empfundenen Geschlecht (Geschlechtsidentität) in Einklang zu bringen. Das kann zum Beispiel über Hormonbehandlungen und/oder Operationen geschehen. Auch andere Behandlungsmassnahmen (wie Stimm- und Sprechtraining sowie verschiedene Hilfsmittel) können Betroffenen bei der Geschlechtsangleichung unterstützen.

Hormonbehandlungen

Erwachsene mit Geschlechtsdysphorie können mithilfe von Hormonpräparaten ihren Körper mehr in Richtung männlich (z.B. Bartwachstum, Stimmbruch) oder weiblich (z.B. Brustwachstum) verändern. Dadurch kann sich das Gefühl mangelnder Übereinstimmung zwischen biologischem und empfundenem Geschlecht verringern. Viele Betroffene empfinden die Geschlechtsinkongruenz dadurch als weniger belastend.

Wichtig ist, dass jede Hormontherapie ärztlich begleitet wird. Hormone beeinflussen nämlich viele Prozesse im Körper und bergen in der Folge auch Risiken. Auf eigene Faust Hormone zu nehmen (etwa Präparate aus dem Internet) sind deshalb nicht ratsam!

Verschiedene Mediziner können Hormone verschreiben – Hormonspezialisten ebenso wie beispielsweise Hausärzte und Gynäkologinnen. Im Falle einer hormonellen Geschlechtsangleichung sollten sich Betroffene von darauf spezialisierten Endokrinologen betreuen lassen, die viel Erfahrung mit dieser Behandlungsform bei Geschlechtsinkongruenz beziehungsweise Geschlechtsdysphorie haben.

Logopädie

Ein Stimm- und Sprechtraining kann bewirken, dass die Stimme von Menschen mit Geschlechtsdysphorie für die Umwelt wahlweise männlicher oder weiblicher wahrgenommen wird.

Entscheidende Faktoren sind unter anderem Stimmfrequenz, Sprechmuster, Klangfarbe und Sprachmelodie. Mit speziellen, regelmässig durchgeführten Übungen lässt sich die eigene Stimme so verändern, dass sie etwas männlicher beziehungsweise weiblicher klingt.

Ergänzend oder alternativ können weitere Massnahmen sinnvoll sein: Eine Testosteronbehandlung für eine männlichere Stimme, ein chirurgischer Eingriff für eine weiblichere Stimme (siehe unten).

Maskulinisierende Eingriffe und Hilfsmittel

Verschiedene Eingriffe können einen Körper aus biologischer Sicht männlicher (maskuliner) erscheinen lassen. Betroffene fühlen sich hinterher oft mehr im Einklang mit ihrem Körper, was eine grosse psychische Entlastung sein kann.

Alternativ oder begleitend können verschiedene Hilfsmittel die Geschlechtsangleichung unterstützen. Im Folgenden finden Sie eine Auswahl maskulinisierender Eingriffe und Hilfsmittel:

Entfernung der weiblichen Brust (Mastektomie): Dabei beseitigen Chirurgen meist das Brustdrüsengewebe und bei Bedarf auch überschüssige Haut. Oft versetzen sie zudem die Brustwarzen und verkleinern ihren Vorhof.

Kompressionsweste oder -hemden: Diese sogenannten Binder sind eine mögliche Alternative zur Brustamputation. Mit ihnen lässt sich der Busen optisch abflachen.

Solche Binder können auch zur Überbrückung der Zeit vor der Mastektomie getragen werden, um die ungewünschte Brust zumindest optisch zu verkleinern.

Beim Tragen von Bindern ist darauf zu achten, dass die Kompression nicht die Durchblutung des Gewebes blockiert oder Haltungsschäden provoziert.

Entfernung von Gebärmutter und Eierstöcken: Wie die Brust lässt sich auch die Gebärmutter entfernen (Hysterektomie). Der Eingriff erfolgt über die Vagina und/oder über kleine Schnitte in der Bauchdecke.

Über solche Zugangswege können Chirurgen auch die Eierstöcke und Eileiter entfernen (Adnektomie). Weil diese wichtige Sexualhormone produzieren, muss man hinterher lebenslang Hormone wie Testosteron einnehmen. Sonst drohen gesundheitliche Probleme wie zum Beispiel Osteoporose.

Aufbau eines Penis (Penoidkonstruktion): Der Aufbau eines Penis erfordert mehrere Operationen. Chirurgen formen dabei einen „Penis“ (Penoid) mit Harnröhre, Eichel und Hoden. Es besteht auch die Möglichkeit, später noch eine Schwellkörper-Prothese einzusetzen. Dann kann sich der Penoid beim Geschlechtsverkehr versteifen.

Der Penoidaufbau ein sehr komplexer Eingriff. Die häufigsten Komplikationen sind etwa Verengungen und Fisteln der Harnröhre. Lassen Sie sich umfassend von erfahrenen Operierenden informieren!

Penis-Hoden-Epithese: Das ist ein aus Silikon nachgebildeter Penis, der sich mit einem medizinischen Haftkleber in der Genitalregion befestigen lässt. Er ähnelt optisch und vom Angreifen her stark einem echten Penis.

Trans Männer können sich eine individuelle Epithese in erigierter und nicht erigierter Form anfertigen lassen. Sie können damit zum Beispiel im Stehen pinkeln oder mit einem steifen Penis am Geschlechtsverkehr teilnehmen.

Das Tragen einer Penis-Hoden-Epithese ist eine mögliche Alternative zur operativen Konstruktion eines Penis. Sie kann Betroffenen auch bei der Entscheidung für oder gegen einen chirurgischen Penoidaufbau helfen.

Auch nach einer solchen Operation kann die Epithese hilfreich sein: Wer sich (noch) keine Schwellkörper-Prothese hat einsetzen lassen, kann sich damit einen steifen Penis für den Geschlechtsverkehr verschaffen.

Feminisierende Eingriffe und Hilfsmittel

Verschiedene Massnahmen können einen Körper weiblicher (femininer) erscheinen lassen. Sie ermöglichen es Betroffenen, sich mehr im Einklang mit ihrem Körper zu fühlen, was sehr zur psychischen Stabilität und Lebensqualität beitragen kann. Hier eine Auswahl feminisierender Massnahmen:

Enthaarung (Epilation): Der männliche Behaarungstyp (Hart, Brusthaare etc.) kann trans Frauen stark belasten. Mit einer Epilation lassen sich die unerwünschten Haare loswerden. Gegebenenfalls muss man die Behandlung wiederholen, wenn die Haare (z.B. im Gesicht) nachwachsen.

Es gibt verschiedene Verfahren zur Epilation. Solche, die mit Lichtimpulsen (Laser oder IPL = intensiv pulsed light) arbeiten, eignen sich besonders für dunkle Haare und zeigen schnell Wirkung. Die Nadelepilation ist schmerzhafter, funktioniert aber auch bei hellen und grauen Haaren.

Lassen Sie sich von einem Fachmann (z.B. Dermatologen) beraten, wenn Sie sich bei der Wahl des Epilationsverfahrens unsicher sind.

Operation des Stimmapparates: Sie kann helfen, wenn jemand sehr darunter leidet, dass die eigene Stimme trotz Logopädie nicht weiblicher anmutet. Der Eingriff an den Stimmlippen bewirkt, dass die Stimme höher klingt. Mittels Logopädie lässt sich hinterher auch das Sprechmuster „weiblicher“ machen.

Brustvergrösserung: Mit Silikonimplantaten können Chirurgen eine Brustvergrösserung erzielen (Mammaplastik). Das kann sinnvoll sein, wenn trotz Hormonbehandlung die Brust nicht wie gewünscht eine weiblichere Form und Grösse annimmt – oder eine Hormontherapie aus medizinischen Gründen nicht möglich ist.

Brustepithesen: Auch sie können zumindest optisch zum gewünschten Busen verhelfen. Die aus Silikon nachgebildeten Brüste werden in den BH eingelegt oder mit einem speziellen Kleber auf der Haut befestigt.

Gesichtsoperationen: Verschiedene Operationen können weiblichere Gesichtsmerkmale schaffen, wenn die Hormonbehandlung und Epilation nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Chirurgen können zum Beispiel ein kräftiges, männlich wirkendes Kinn verkleinern und die Haarlinie verlegen. Auch Eingriffe etwa an Stirnknochen, Jochbeinen und Augenhöhlen sind möglich, um die Gesichtszüge weiblicher wirken zu lassen.

Korrektur des Adamsapfels: Ein prominenter Adamsapfel wirkt männlich und kann für Menschen mit Geschlechtsdysphorie, die sich selbst mehr als Frau erleben, sehr störend sein. Ob der Eingriff sinnvoll ist oder nicht, hängt nicht von der Grösse des Adamsapfels ab, sondern davon, wie belastend ihn Menschen mit Geschlechtsdysphorie empfinden.

Genitaloperationen: Um sich weiblicher zu fühlen und den Leidensdruck der Geschlechtsdysphorie zu verringern, entscheiden sich manche trans Frauen für feminisierende Operationen im Genitalbereich.

Sie lassen sich beispielsweise Penis und Hoden entfernen. Ähnlich wie nach einer Eierstock-Entfernung müssen nach der Hodenentfernung (Orchiektomie) lebenslang Hormone eingenommen werden. Damit lässt sich der Wegfall der Hormonproduktion kompensieren.

Ein weiterer möglicher Operationsschritt bei der Angleichung an das weibliche Geschlecht ist der Aufbau einer Vagina (Neovagina). Auch Klitoris und Schamlippen lassen sich chirurgisch formen.

Solche Eingriffe sind komplex und erfordern eine gute Vor- und Nachsorge (z.B. sorgfältige Intimpflege). Mögliche Komplikationen sind etwa Wundheilungsstörungen und Verwachsungen. Lassen Sie sich daher im Vorfeld umfassend beraten!

Geschlechtsangleichung – sorgfältig überlegt

Eine Geschlechtsangleichung ist für viele Menschen mit Geschlechtsdysphorie der Ausweg aus jahrelangem Leid. Das zeigen etwa Studien mit Daten von insgesamt mehr als 2.000 trans Menschen, die sich einer Hormonbehandlung und/oder chirurgischen Eingriffen unterzogen hatten:

Bei den meisten verringerten sich der Leidensdruck der Geschlechtsdysphorie und begleitende psychische Symptome. Zudem berichtete die Mehrheit der Teilnehmenden, ihre Lebensqualität hätte sich durch die Therapien verbessert.

Nichtsdestotrotz sollten sich Interessierte im Vorfeld umfassend zum Thema aufklären lassen – bei Bedarf auch von mehreren kompetenten Stellen:

  • Welche Methoden der Geschlechtsangleichung sind in meinem Fall möglich?
  • Welches Ergebnis kann ich erwarten?
  • Wie läuft die Hormontherapie / Operation genau ab?
  • Mit welchen Nebenwirkungen und Risiken ist zu rechnen?
  • Welche Kosten sind mit den Eingriffen verbunden? Übernimmt die Krankenversicherung einen Teil davon?

Die Antworten auf solche Fragen helfen, die eigenen Wünsche mit den reellen Möglichkeiten einer Geschlechtsangleichung unter einen Hut zu bringen – und so den eigenen Weg im Umgang mit der Geschlechtsdysphorie zu finden.

Autoren- & Quelleninformationen

Jetzt einblenden
Datum :
Wissenschaftliche Standards:

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

Autor:

Martina Feichter hat in Innsbruck Biologie mit Wahlfach Pharmazie studiert und sich dabei auch in die Welt der Heilpflanzen vertieft. Von dort war es nicht weit zu anderen medizinischen Themen, die sie bis heute fesseln. Sie ließ sich an der Axel Springer Akademie in Hamburg zur Journalistin ausbilden und arbeitet seit 2007 für NetDoktor (zwischenzeitlich als freie Autorin).

ICD-Codes:
F64
ICD-Codes sind international gültige Verschlüsselungen für medizinische Diagnosen. Sie finden sich z.B. in Arztbriefen oder auf Arbeitsunfähigkeits­bescheinigungen.
Quellen:
  • Beier, K.M.. et al.: Sexualmedizin, Elsevier, 3. Auflage, 2021
  • Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP): „Start des Klassifikationssystems ICD-11“ (Stand: 08.12.2021), unter: www.boep.or.at (Abruf: 27.03.2023)
  • Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): „ICD-11“, unter: www.bfarm.de (Abruf: 27.03.2023)
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Inter* - was?, unter: www.regenbogenportal.de (Abruf: 27.03.2023)
  • Bundesverband Trans* e.V.: Leitfaden Trans*Gesundheit (Stand: 10/2018), unter: www.bundesverband-trans.de (Abruf: 27.03.2023)
  • Bundeszentrale für politische Bildung: „Medizinische Einordnung von Trans*identität“ (Stand: 08.08.2018), unter: www.bpb.de (Abruf: 27.03.2023)
  • Kantonalverband der Zürcher Psychologinnen und Psychologen: „ICD-11 – Wichtigste Neuerungen und ein Überblich zu den spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen“ (Stand: Dezember 2021), unter: www.zuepp.ch (Abruf: 27.03.2023)
  • Michel, M.S. et al.: Die Urologie, Springer-Verlag, 2016
  • Mirastschijiski, U. et Remmel, E.: Intimchirurgie, Springer-Verlag, 2019
  • S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung et al.: Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung, Behandlung (Stand: 2018), unter: https://register.awmf.org (Abruf: 27.03.2023)
Teilen Sie Ihre Meinung mit uns
Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie NetDoktor einem Freund oder Kollegen empfehlen?
Mit einem Klick beantworten
  • 0
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
  • 6
  • 7
  • 8
  • 9
  • 10
0 - sehr unwahrscheinlich
10 - sehr wahrscheinlich