Dyskalkulie

Von , Arzt
Clemens Gödel

Clemens Gödel ist freier Mitarbeiter der NetDoktor-Medizinredaktion.

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Dyskalkulie ist der Fachbegriff für Rechenschwäche. Betroffene haben grosse Schwierigkeiten, einfachste Mathematik zu verstehen und anzuwenden. Dies fällt meist in der Grundschule oder bereits im Kindergarten auf. Um den Verdacht zu bestätigen, unterziehen sich Betroffene einer Reihe von Tests. Eine individuelle Dyskalkulie-Förderung hilft, um Nachteile durch die Rechenschwäche zu mindern. Lesen Sie hier mehr über Dyskalkulie!

Schüler bei Mathehausaufgaben

Kurzübersicht

  • Symptome: Starke Schwierigkeit in der Mathematik (Einmaleins, Grundrechenarten, Textaufgaben) und bei Zahlen- und Mengenverarbeitung, psychische Symptome wie Prüfungsangst, Depression, somatische Beschwerden, Aufmerksamkeitsdefizite, aggressives Verhalten
  • Therapie: Individuelle Unterstützung basierend auf Rechentraining, Verhaltenstherapie und neuropsychologischem Training, in die Förderung werden Eltern und Lehrkräfte miteinbezogen, technische Hilfsmittel wie Taschenrechner, digitale Anzeigen
  • Ursachen: Bisher weitestgehend unklar, diskutiert werden frühkindlich bedingte Hirnstörung und Epilepsien, genetische Gründe, ein Zusammenhang mit einer Lese-Rechtschreibstörung
  • Diagnose: Frühe Diagnose entscheidend für den Behandlungserfolg, diagnostisches Gespräch mit Spezialisten, Erhebung der schulischen Entwicklung, Abklärung durch spezielle Tests, körperliche Untersuchungen (wie Seh- und Hörtests, neurologische Untersuchungen)
  • Prognose: Dyskalkulie ist nicht heilbar, durch eine gezielte und möglichst Förderung verbessern sich die mathematischen Leistungen jedoch deutlich

Was ist Dyskalkulie?

Die Antwort auf diese Frage lautet kurzgefasst: eine tiefgreifende Schwierigkeit im Umgang mit Mathematik. Demzufolge wird die Dyskalkulie auch als Rechenschwäche bezeichnet. Sie gehört zu den sogenannten Lernstörungen. Diese Gruppe von schulischen Entwicklungsstörungen betrifft neben dem Rechnen auch andere Fähigkeiten wie Lesen oder Schreiben – diese entwickeln sich nicht „normal“. Hintergrund ist ein definierter Ausfall von Hirnleistungen.

Die Dyskalkulie muss von einer erst später auftretenden, erworbenen Akalkulie (Rechenunfähigkeit) abgegrenzt werden. Eine Akalkulie tritt zum Beispiel infolge eines Schlaganfalls auf.

Eine Rechenschwäche fällt in fast allen Fällen bereits im Kindesalter auf. Dyskalkulie ist charakterisiert durch ein Missverhältnis von erwarteten und tatsächlichen Leistungen. Betroffene haben grosse Probleme mit Zahlen und Mengen. Dadurch erfassen sie selbst einfache Rechnungen nur schwer oder gar nicht. Infolge der Rechenschwäche sind nicht nur die Leistungen in Mathematik, sondern auch im Physik- oder Chemieunterricht schwach.

Probleme, die erst bei höheren mathematischen Anforderungen deutlich werden, sind dagegen in der Regel nicht mit einer Dyskalkulie zu begründen. Die Dyskalkulie-Definition umfasst auch, dass sich die Rechenschwäche nicht durch eine geringe Schulausbildung, verminderte Intelligenz oder sensorische Störungen wie Taubheit erklären lässt.

Dyskalkulie endet nicht mit der Schulzeit, sondern führt in der Regel auch im Erwachsenenalter zu Problemen in der Aus- oder Weiterbildung, beim Studium, im Beruf oder im privaten Bereich.

Kombination mit weiteren Störungen

Viele Betroffene weisen zusätzlich zur Dyskalkulie weitere Störungen auf, vor allem kombinierte Lese-Rechtschreibstörungen, ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS), Prüfungsängste oder aggressives Verhalten. Studien in den USA zeigen, dass über 50 Prozent der Kinder mit Leseschwäche auch schwache mathematische Leistungen zeigen. Umgekehrt waren bei mehr als 40 Prozent der Kinder mit Dyskalkulie auch Zeichen einer Leseschwäche vorhanden.

Häufigkeit der Dyskalkulie

Neuere Erhebungen zur Häufigkeit von Dyskalkulie kommen in unterschiedlichen Ländern auf ähnliche Ergebnisse. So weisen in Deutschland zwischen drei und sieben Prozent der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen eine Dyskalkulie auf. In Österreich sind etwa fünf Prozent der Grundschulkinder von einer Dyskalkulie betroffen. Für die Schweiz gibt es keine belastbaren Zahlen.

Wie erkennt man Dyskalkulie?

Bei einer Dyskalkulie haben Betroffene in allen Bereichen der Mathematik (Einmaleins, Grundrechenarten, Textaufgaben) sowie bei der Zahlen- und Mengenverarbeitung grosse Probleme. Sie verstehen Zahlen nicht als Mengenangabe, sondern als ein Symbol. Daher schleichen sich häufig Zahlendreher ein. Sie benötigen eine deutlich längere Zeit zum Lösen der Rechenaufgaben.

Zusätzlich ist das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis eingeschränkt. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass sich Betroffene schlecht die Positionen von Zahlen in einer Matrix (Anordnung wie in einer Tabelle) merken.

Bei Kindern fällt die Dyskalkulie dadurch auf, dass sie dem Unterricht nur noch schlecht folgen und ihre Leistungen abfallen. Es muss aber nicht zwangsläufig eine Dyskalkulie dahinterstecken: Rund ein Drittel der Kinder, die im ersten Schuljahr Schwierigkeiten mit Zahlen haben, erzielt in den Folgejahren durchschnittliche Leistungen und hat somit keine Dyskalkulie. Wird eine Rechenschwäche jedoch erst später, vor allem nach der fünften Klasse, offensichtlich, verschwindet sie in der Regel nicht von allein.

Symptome im Kindergarten oder in der Vorschule

Bereits im Kindergartenalter sind Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für eine Dyskalkulie möglich. Eine Rechenschwäche zu erkennen, ist in diesem Alter jedoch nicht immer einfach. Erste Anzeichen sind Probleme mit Verhältnisangaben und Abzählen. Auch der Einstieg in den Umgang mit Einheiten (wie Gewicht) und dem Dezimalsystem bereitet Schwierigkeiten.

Symptome in der Grundschule

In der Grundschule fällt die Dyskalkulie oft deutlicher auf. Im Unterschied zu Klassenkameraden zeigen betroffene Kinder Wissenslücken beim Umgang mit Zahlen, etwa wenn es darum geht, Zahlen zu schreiben oder zu benennen. Lehrer merken es meist daran, dass diese Kinder wesentlich mehr Zeit benötigen als ihre Altersgenossen. Den Betroffenen fällt der Umgang mit Mengen ebenfalls deutlich schwerer. Hinzu kommt, dass sie Rechenarten häufig verwechseln.

Das Fingerzählen ist grundsätzlich ein normales Hilfsmittel, wenn Rechenstrategien erlernt werden. Lange bestehendes Fingerrechnen hingegen, insbesondere bei leichten und geübten Aufgaben, ist mitunter ein weiteres Anzeichen für Dyskalkulie.

Symptome im Alltag

Für Kinder mit Dyskalkulie ergeben sich auch im Alltag eine Vielzahl von Schwierigkeiten. Das Lesen der Uhr sowie der Umgang mit Geld ist zum Beispiel eine grosse Herausforderung für die Betroffenen.

Psychische Belastung

Aus den Erfahrungen, die Betroffene aufgrund ihrer Dyskalkulie machen, ergeben sich häufig problematische Verhaltensweisen. Sie versuchen, das Problem zu vermeiden. Statistisch gesehen haben Kinder mit Dyskalkulie häufiger psychische Symptome als nicht betroffene Kinder. Insgesamt führt die Dyskalkulie zu einer sehr hohen psychischen Belastung für die Kinder.

Zum einen ziehen sich betroffene Kinder häufig zurück und entwickeln (Prüfungs-)Angst, depressive Symptome sowie somatische Beschwerden. Als somatische Beschwerden bezeichnet man körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerz, für die keine organische Ursache gefunden wird. Zum anderen sind Aufmerksamkeitsdefizite, delinquentes (= gegenüber der Norm abweichendes) und aggressives Verhalten bei den betroffenen Kindern möglich.

Hinzu kommen die Symptome eventuell vorhandener Begleiterkrankungen wie ADHS, Depression, Angststörungen oder Störungen des Sozialverhaltens.

Ist Dyskalkulie behandelbar?

Dyskalkulie ist behandelbar, aber nicht heilbar. Die Dyskalkulie-Therapie basiert fast ausschliesslich auf einer individuellen und gezielten Förderung des betroffenen Kindes. Die Betroffenen erhalten keine medizinischen Massnahmen, vor allem keine Medikamente.

Ein frühzeitiger Beginn der Behandlung – eventuell bereits begleitend zum Kindergarten – verhindert einen zu grossen Leistungsrückstand im Verhältnis zu Klassenkameraden. Die individuelle Unterstützung bei Dyskalkulie basiert auf drei Säulen:

  • Rechentraining
  • Verhaltenstherapie
  • Neuropsychologisches Training

Rechentraining

Das Rechentraining orientiert sich entweder am Lehrplan oder ist davon losgelöst. Mehr zu den angewendeten Übungsmethoden lesen Sie im Beitrag Dyskalkulie-Übungen.

Verhaltens- und neuropsychologisches Training

Eine Verhaltenstherapie hilft, dem Kind Strategien zur Problemlösung aufzuzeigen. Das neuropsychologische Training soll wichtige Hirnfunktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache und visuell-analytisches sowie räumlich-konstruktives Denken verbessern.

Individuelle Zielsetzung

Ziel der Therapie bei Dyskalkulie ist, dass das Kind ein eigenes mathematisches Denken konstruiert und so ein Gefühl für Zahlen entwickelt. Das ermöglich dem Kind, Basiskompetenzen der Mathematik zu erfassen, um bestmöglich vom Unterricht zu profitieren.

Das individuelle Ziel richtet sich nach dem Lernstand, den bestehenden Kompetenzen, Bedürfnissen, Stärken und Schwierigkeiten. Im Zentrum stehen die ganz eigenen Stärken und Schwächen des Kindes. Daraus ergibt sich, dass eine Therapie in den meisten Fällen in Einzelsitzungen durchgeführt werden muss. Bei der Wahl des Therapeuten sollte man darauf achten, dass es spezialisierte Lerntherapeuten sind. Zwar gibt es kein eigenständiges Berufsbild des „Dyskalkulie-Therapeuten“, jedoch Psychotherapeuten, die sich auf diesen Bereich spezialisiert haben.

Verständnis und Mitarbeit der Eltern

Grundlage des richtigen Umgangs mit der Dyskalkulie ist ein genaues Verständnis der Störung. Die Rechenstörung bedeutet keine Beeinträchtigung der Intelligenz! Wichtig aber ist, dass die Angehörigen die Tragweite und die Folgen einer Dyskalkulie verstehen. Dazu gehört zum Beispiel das Wissen, dass bei der Dyskalkulie verschiedene psychologische Faktoren wie Druck und Frustration eine Rolle spielen.

Eltern und Therapeuten sollten bei der Dyskalkulie-Therapie zusammenarbeiten und das gemeinsame Vorgehen abstimmen. Die Aufgabe der Eltern ist die Unterstützung ihres Kindes. Die ganze Familie sollte dem Kind Rückhalt bieten. Dazu gehört, dass man ihm seine Stärken aufzeigt und ihm Zutrauen vermittelt. Die Eltern sollten dem Kind zu verstehen geben, dass Mathematik zwar nicht alles im Leben ist, aber dennoch grosse Bedeutung hat. Dazu sind lebensnahe Beispiele hilfreich (wie Ablesen der Uhr, Umgang mit Geld).

Trotz des immer empfohlenen Lobes ist eine zu hohe Erwartungshaltung an das Kind zu vermeiden. Es ist wichtig, dass dem Kind die Behandlungsperspektive verständlich ist: Die Therapie unterstützt langfristig und hilft, die Situation für die Zukunft zu verbessern.

Einbeziehen der Schule

Auch die Schule sollte in der Dyskalkulie-Therapie eine Rolle spielen. Grundlage des erfolgreichen Lernens ist eine gute Lernumgebung. Sind die Lehrer informiert und bestimmte Absprachen getroffen, erleichtert das in vielen Fällen den Anschluss der Kinder an den Unterricht. Sinnvolle Massnahmen sind beispielsweise, dass das betroffene Kind eine längere Arbeitszeit oder eine geringere Aufgabenzahl erhält. Auch Taschenrechner sind mitunter hilfreich. Eine weitere Unterstützung sind innovative Lehrmethoden, die die Verbindung von realem Leben und Mathematik verdeutlichen.

Therapie bei Jugendlichen und Erwachsenen

Bisher fokussieren sich Förderprogramme hauptsächlich auf den Vorschul- und Grundschulbereich. Entsprechend gibt es nur wenige ansprechende Fördermaterialien für Jugendliche und Erwachsene. Es besteht Forschungsbedarf, den langfristigen Verlauf einer Rechenstörung bis in das Erwachsenenalter und die mögliche Entwicklung von begleitenden Störungen, speziell von Mathematik- und Schulangst, zu untersuchen.

Generell leisten technische Hilfsmittel einen wichtigen Beitrag in der Bewältigung, insbesondere in Ausbildung und Beruf. Dazu gehören Taschenrechner und digitale Anzeigen, da es einigen Menschen mit Dyskalkulie besonders schwerfällt, analoge Ziffern zu verarbeiten. Werden diese in der Ausbildung oder im Studium nicht erlaubt, hat der Betroffene die Möglichkeit, einen Antrag auf Nachteilsausgleich zu stellen.

Dauer und Kosten der Therapie

Es ist schwierig, eine Aussage über die Dauer der Dyskalkulie-Therapie zu treffen. In den meisten Fällen erstreckt sich die Therapie über mindestens ein Jahr. Die Fortschritte sind im Einzelfall jedoch sehr schwer vorhersehbar.

Ein weiteres Problem sind die Therapie-Kosten, die die Eltern in vielen Fällen selbst übernehmen müssen. Für die gesetzliche Krankenversicherung hat die Dyskalkulie keinen Krankheitswert, weshalb aus ihrer Sicht kein Behandlungsbedarf besteht. Unter bestimmten Umständen, zum Beispiel bei zusätzlich bestehenden Erkrankungen wie dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS), übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Behandlung aber.

Was sind Ursachen und Risikofaktoren?

Bis heute ist es weitestgehend unklar, wie und warum genau eine Rechenstörung entsteht. In Studien zeigte sich bei Betroffenen eine Unteraktivität der für das Rechnen verantwortlichen Hirnregionen. Dies erklärt auch, dass Betroffene Zahlen wie „leere Worte“ aufnehmen, denen sie keine weitere Bedeutung zuordnen. Um zu rechnen, müssen mehrere Bereiche des Gehirns genutzt werden. Wissenschaftler vermuten, dass eine Entwicklungs- und Aktivitätsstörung dieser Regionen für die „Matheschwäche“ verantwortlich ist.

Mögliche Risikofaktoren

Frühkindlich bedingte Hirnstörungen und Epilepsien lösen möglicherweise eine Rechenschwäche aus. Zusätzlich spielen psychosoziale und schuldidaktische Faktoren eine wichtige Rolle.

Genetische Gründe

Studien mit Familien und Zwillingen legen nahe, dass Dyskalkulie zu einem gewissen Anteil vererbbar ist. Rund 45 Prozent der Betroffenen haben Angehörige mit Lernstörungen.

Ein spezielles Gen, das für die Störung verantwortlich ist, ist bisher nicht identifiziert. Genaue Analysen der Erbsubstanz stehen noch aus und stellen ein zukünftiges Forschungsgebiet dar.

Im Rahmen von genetisch bedingten Erkrankungen wie Turner-Syndrom oder Phenylketonurie tritt mitunter auch eine Dyskalkulie auf.

Zusammenhang mit Lese-Rechtschreibstörung?

Mathematische Fähigkeiten sind unabhängig von sprachlichen Kompetenzen oder der Intelligenz. Sie sind ein eigenständiger Teil des Denkens. Die Verarbeitung mathematischer Aufgaben ist jedoch nicht komplett losgelöst von Sprache. Es ist erforderlich, die mathematische Fachsprache zu erkennen und zu verstehen. Lese-Rechtschreibstörungen erschweren diesen Prozess und sind daher oft mit einer Dyskalkulie verbunden.

Wie wird Dyskalkulie untersucht und diagnostiziert?

Eine frühe Diagnose der Dyskalkulie ist wichtig, damit dem betroffenen Kind eine passende Förderung zusätzlich zum Schulunterricht zukommt. Nur so lassen sich Wissenslücken schnell schliessen, und das Kind verliert nicht den Anschluss an den Unterricht.

In die Diagnosestellung sollten im Schulalter unbedingt die Lehrer miteinbezogen werden. Sie helfen mit ihrer Erfahrung, Schwächen des Kindes zu benennen und zu analysieren. Oftmals fallen den Lehrern neben fachlichen Einschränkungen auch Störungen des Sozialverhaltens auf.

Diagnostisches Gespräch

Spezialisten für Lernschwächen sind Kinder- und Jugendpsychiater oder entsprechende Psychotherapeuten. Zur Einleitung des diagnostischen Gesprächs ist es wichtig, dass der Mediziner sowohl die Eltern als auch das betroffene Kind zur Rechenschwäche befragt. Oftmals klären sich bereits an dieser Stelle Missverständnisse.

Das Kind wird gebeten zu beschreiben, wie es die Dyskalkulie selbst empfindet und welche Schwierigkeiten aus seiner Sicht bestehen. Der behandelnde Arzt schätzt dann ab, welche Belastungen aus der Rechenschwäche resultieren.

Danach spricht er mit den Eltern eingehend über die Dyskalkulie-Symptome des Kindes. Auch eventuelle sprachliche und motorische Entwicklungsstörungen sollten zur Sprache kommen. Möglicherweise bestehen auch seelische Belastungen, die den Antrieb des Kindes mindern. Zuletzt berücksichtigt der Arzt auch die Familiensituation, um eventuelle familiäre Belastungen zu identifizieren. Schliesslich ist auch die Frage zu klären, ob es bereits Massnahmen gegen die Dyskalkulie gegeben hat.

Schulischer Bericht

Grundlage für die Untersuchung ist die Erhebung von Lernstand und schulischer Entwicklung. Dazu gehört der Bericht der Schule. Dieser Bericht sollte alle schulischen Bereiche inklusive der Motivation des Kindes abdecken, da manchmal auch schwache sprachliche Fähigkeiten im Zusammenhang mit einer Dyskalkulie stehen. Auch häufige Klassen- und Schulwechsel sind ein Risikofaktor für schulische Schwierigkeiten. 

Tests

Experten sprechen nur dann von Dyskalkulie, wenn die Rechenschwäche trotz ausreichenden Schulbesuchs sowie „normaler“ Intelligenz besteht. Zur Abklärung werden verschiedene Tests durchgeführt. Lesen Sie mehr dazu im Beitrag Dyskalkulie-Tests!

Körperliche Untersuchung

Eine eingehende körperliche Untersuchung ist wichtig, um eventuelle neurologische oder sensorische Defizite festzustellen wie Aufmerksamkeitsdefizite, Sprachprobleme, Gedächtnisstörungen und eine visuell-räumliche Schwäche. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf Seh- und Hörschwierigkeiten liegen. Der Arzt ermittelt die intellektuellen Fähigkeiten durch einen standardisierten Intelligenztest.

Die Diagnose „Dyskalkulie“ erfolgt, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

  • Die schulische Leistung ist mangelhaft oder ungenügend.
  • In standardisierten Rechentests wird ein Ergebnis unter den schlechtesten zehn Prozent erreicht.
  • Der Intelligenzquotient ist grösser 70.
  • Die Differenz zwischen den Ergebnissen der Rechentests und des Intelligenzquotienten sind deutlich.
  • Die Dyskalkulie ist bereits vor der sechsten Klasse aufgetreten.

Grundsätzlich muss immer herausgefunden werden, ob die Dyskalkulie sich nur sekundär aufgrund einer Lese-Rechtschreibschwäche entwickelt hat. Behebt man diese Störung, verschwindet mitunter auch die Rechenschwäche.

Es ist wichtig auszuschliessen, dass die „Matheschwäche“ nur aufgrund mangelnden Unterrichts, neurologischer Erkrankungen oder emotionaler Störungen besteht. Wenn dies der Fall ist, stellt der Arzt die Diagnose Dyskalkulie unter Beachtung aller Kriterien.

Wie sind Krankheitsverlauf und Prognose?

Eine Dyskalkulie wächst sich nicht aus und ist nicht heilbar. Durch gezielte Förderung des Betroffenen verbessern sich in den meisten Fällen die Leistungen jedoch deutlich. Auch die aus der Dyskalkulie resultierende psychische Belastung wird häufig durch die Betreuung deutlich reduziert.

Ohne eine individuelle Unterstützung sind dagegen kaum Fortschritte im Lernprozess zu erwarten und die Bildungschancen sind stark vermindert. Betroffene verlassen statistisch gesehen früher die Schule und haben Probleme bei der weiteren Berufsausbildung.

Dies verdeutlicht, dass die Förderung früh begonnen werden muss, um Nachteile durch die „Matheschwäche“ zu vermindern und einen normalen Lernfortschritt zu ermöglichen.

Verschiedene Vereine und Verbände stehen Betroffenen und auch Angehörigen unterstützend zur Seite, so zum Beispiel der Verband Dyslexie Schweiz (VDS). Sie sind in vielen Fällen wertvolle Ansprechpartner beim Umgang mit Dyskalkulie. Mehr Informationen: www.verband-dyslexie.ch

Autoren- & Quelleninformationen

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Wissenschaftliche Standards:

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

Autor:
Clemens Gödel

Clemens Gödel ist freier Mitarbeiter der NetDoktor-Medizinredaktion.

ICD-Codes:
F81
ICD-Codes sind international gültige Verschlüsselungen für medizinische Diagnosen. Sie finden sich z.B. in Arztbriefen oder auf Arbeitsunfähigkeits­bescheinigungen.
Quellen:
  • Born, A. & Oehler, C.: Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern, 6. Auflage, Verlag W. Kohlhammer, 2020
  • Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (Hrsg), unter: www.bvl-legasthenie.de (Abruf: 17.12.2021)
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  • Haberstroh, S. und Schulte-Körne, G.: Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 107-14, unter: www.aerzteblatt.de (Abruf 20.12.2021)
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  • Jacobs, C. & Petermann, F.: Dyskalkulie – Forschungsstand und Perspektiven, Kindheit und Entwicklung 12 (4), 2003: 97-211
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  • Price, G.R. & Ansari, D.: Developmental dyscalculia, Handbook of Clinical Neurology, Vol. III (3rd series), 2013: 241-244 Pediatric Neurology Part 1
  • S3-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP), unter www.awmf.org (Stand: 25.02.2018)
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