Gefahr per Mausklick? Internet-Mythen im Faktencheck

Digitale Demenz, Isolation, Fettleibigkeit: Den "Neuen Medien" werden viele krankmachende Eigenschaften attestiert. Wir haben uns das angesehen.
Die englische Sprache bezeichnet internetbasierte Ideen und Dienste als "disruptive technologies", also spaltende oder sprengende Technologien. Die damit verbundenen Ängste sind jedoch nicht immer begründet: Gerade rund um das Internet ranken sich etliche Mythen. Auch wenn viele davon plausibel klingen, ist die Gefahr, die vom Internet ausgeht, meist kleiner als gedacht.
Mythen im Faktencheck
"Das Internet macht vergesslich"

Das Internet nehme uns Denk- und Erinnerungsarbeit ab und lasse so das Hirn verkümmern, ist eine häufig formulierte Angst. Dieser Mythos ist namensgebend für die "Digitale Demenz“ und nicht ganz richtig. Auslöser für die Diskussion war eine kleine koreanische Studie, die einen Zusammenhang von Smartphonenutzung und Vergesslichkeit herstellt. Inwieweit sich die Erkenntnisse einer Umfrage unter Jugendlichen in Seoul auf die österreichische Gesamtbevölkerung übertragen lassen, muss der Leser selbst entscheiden.
Ein weiteres Argument, das gerne für die "Digitale Demenz" angeführt wird, ist eine per se gute Eigenschaft unseres Gehirns, nämlich die "neuronale Plastizität". Der Begriff beschreibt die Fähigkeit unseres Gehirns, sich an Gegebenheiten der Umwelt anzupassen. Werden bestimmte Areale (oder auch nur einzelne Verbindungen zwischen den Nervenzellen) häufig gebraucht, so werden sie vom Gehirn gestärkt. Funktionen, die nicht gebraucht werden, werden abgebaut. Das Schlagwort dazu: Use it or lose it! Was für unseren Muskelapparat gilt, gilt für unsere Synapsen ebenso. Das ist auch tatsächlich messbar und Dank neuer bildgebender Verfahren gut in lebenden Organismen zu beobachten.
Frage: Was passiert nun, wenn wir digitale Hilfsmittel nutzen? Zum Beispiel das Handy, um Telefonnummern zu speichern, anstatt sie wie früher auswendig zu lernen? Antwort: Mit der Zeit wird jene Gehirnfunktion abgebaut, die zuvor für das Auswendiglernen von Telefonnummern zuständig war. Es kommt also tatsächlich zu einem Funktionsverlust im Gehirn, was eine These der "Digitalen Demenz" auf ersten Blick zu bestätigen scheint.
Neurowissenschafter sehen das allerdings differenzierter: Das Gehirn baut nicht generell ab, sondern reduziert schlicht eine unnötig gewordene Funktion. Dafür wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine andere Funktion gebildet. Vermutlich können Sie nun Telefonnummern mit wenigen Bewegungen in Ihrem Handyspeicher finden – etwas, das Ihnen noch unmöglich schien als Sie das erste Mal ein Handy in der Hand hielten. Kurz: Ihr Gehirn kann nicht weniger durch neue Technologien, es passt sich nur an und kann daher mitunter anderes.
Nichts davon ist mit tatsächlicher Demenz vergleichbar. Es macht letztlich einen großen Unterschied, ob Schaltkreise abgedreht, oder bloß neu verdrahtet werden.
"Das Internet macht einsam"

Häufige Internetnutzung und viele Freunde in Sozialen Netzen würden zu Einsamkeit im "richtigen Leben“ führen, so eine häufig geäußerte These. Das Problem dabei: die vorhandenen Daten unterstützen die sogenannte "Verdrängungshypothese" nicht. Verfügbar sind Erkenntnisse über die andere Richtung der Argumentation: Menschen, die viele "echte" Sozialkontakte haben, haben auch einen großen Freundeskreis in Sozialen Netzen. Die allermeisten Online-Freundschaften bestehen auch "offline". Dass Menschen, die einander nicht persönlich kennen, im Internet befreundet sind, kommt vor, ist aber eine Ausnahme. Belege für das Gegenargument gibt es sehr wohl: Besonders schüchterne Personen finden es leichter, über das Internet zu kommunizieren. Auch Menschen mit Behinderung nutzen Online-Sozialkontakt um Normalität zu leben. Sowohl bei Sehbehinderten als auch bei Menschen mit einer autistischen Spektrumstörung wirkt das Netz nachweislich gegen Einsamkeit.
"Die Internetnutzung macht gleichgültig"

Ein verbreiteter Mythos ist, das Internet mache uns zu Einsiedlern, die an der Gesellschaft nicht teilnehmen. Auch diese These ist nicht haltbar, wenn man die Datenlage zu Rate zieht. Demnach sind Menschen, die das Internet häufig nutzen auch offline aktiver. Einbezogen wurden Wahlbeteiligung, sowie Engagement in Parteien und NGOs. Menschen, die sich online informieren, sind also durchaus bereit auch außerhalb die Initiative zu ergreifen.
"Internetnutzung macht depressiv"

Dafür, dass häufige Internetnutzer eher über Depression klagen, gibt es tatsächlich Hinweise. In Studien ist von "sehr kleinen Zusammenhängen in die vermutete Richtung" die Rede. Internetnutzung könnte zu 0,25 % zur Entstehung von Depressionen beitragen. Anders sieht die Lage bei problematischer Internetnutzung (Mediensucht) aus. Hier ist ein deutlicherer Zusammenhang zwischen Depression und Nutzungsverhalten gegeben. Es ist jedoch klar, dass das Online-Verhalten Suchtkranker deutlich exzessiver und mit Alltagssituationen nicht vergleichbar ist.
Einer weiteren Studie zu Folge sind Menschen, die wenige "echte" Sozialkontakte haben durch Online-Angebote depressionsgefährdet. Sie sind von der Vielfalt an Erlebnis- und Interaktionsmöglichkeiten dermaßen überfordert, dass sich Frustration und letztendlich Depression einstellen kann.
"Das Internet raubt uns den Schlaf"

Richtig, wenn auch nicht unbedingt in dieser krassen Formulierung. Kinder, die einen Computer oder Fernseher im eigenen Zimmer stehen haben, bekommen einer Studie zufolge weniger Schlaf, als Kinder, die kein eigenes Gerät haben. Im Umgang mit abendlichem Medienkonsum rät die Studie zu geregelten Schlafenszeiten.
Unbestritten ist, dass abendliche Aufregung die Einschlafzeit verzögert. Am stärksten zeigt sich der Effekt übrigens bei Jugendlichen, die abends ausgehen. Diese gehen deutlich später zu Bett als die Computernutzer. Ein weiterer Einflussfaktor ist das Licht des Bildschirms, das sich auf die innere Uhr auswirkt. Flatscreens geben Licht mit besonders hohem Blauanteil ab. Diese Farbe gaukelt dem Körper vor, es wäre Morgen. Als Folge wird die Produktion des Schlafbotenstoffs Melatonin gehemmt.
Um den Blaulicht-Effekt zu umgehen, gibt es Software, die den Blauanteil reduziert:
- PC und iPhone: https://justgetflux.com/
- Android: https://play.google.com/store/apps/details?id=com.palmerin.easyeyesfree&hl=en
"Das Internet macht süchtig"

Eine Abhängigkeit von Internetnutzung gibt es durchaus. Oft wird vermutet, dass große Teile der Jugendlichen davon betroffen sein könnten. Das stimmt nicht. Die Studie, die die größte Zahl von internetsüchtigen Jugendlichen sieht, stammt aus Deutschland (2011) und spricht von einem Anteil von etwa 4 % der unter 25-Jährigen. Skandinavische und US-Studien (2009) gehen von weniger als 1 % Internetabhängiger in der Bevölkerung aus. Meldungen, ein Viertel oder die Hälfte der Teenager hätten ein problematisches Mediennutzungsverhalten, gehören ins Reich der Märchen.
"Wir werden alle dick durch das Internet"

Eine häufige These lautet, die Computernutzung mache uns dick. Das klingt plausibel. Fettleibigkeit ist ein ungelöstes Gesundheitsproblem in der westlichen Welt; falsche Ernährung und Mangel an Bewegung gelten als Hauptursachen.
Nachweisbar ist, dass Fernsehen etwa 1 % zur Entstehung von Übergewicht beiträgt. Für Computerspiele oder Internetnutzung ist die Auswirkung so klein, dass sie sich statistisch nicht zeigen lässt. Während Mangel an Bewegung und unkontrolliertes Snacken nachweislich zu Übergewicht beitragen, wird das Netz wohl grundlos beschuldigt. Stundenlanges Sitzen – mit oder ohne einem Bildschirm – macht allerdings dick! Protipp für gesunde Nutzung: Ab und zu aufstehen und Joggen gehen. Zum Beispiel jetzt. Gleich.
Diskutieren Sie mit!
Wir möchten Ihnen gerne die Möglichkeit geben, diesen Artikel zu diskutieren und haben deshalb einen Thread im Forum. Macht Internetnutzung nervös, schlaflos, depressiv? Fühlen Sie sich einsam im "Social Web"? Oder trifft das Gegenteil zu: Fühlen Sie sich Ihren Freunden/Verwandten näher durch den zusätzlichen Kontakt online?
Kennen Sie Menschen, die von Internetsucht betroffen sind? Oder halten Sie Internetsucht für Humbug?
Wir sind gespannt auf Ihre Beiträge! Hier geht's zur Diskussion.
Autoren:
Mag. (FH) Axel Beer
Redaktionelle Bearbeitung:
Nicole Kolisch, Katrin Derler, BA
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