Diabetische Polyneuropathie (Nervenschädigung durch Diabetes, Nervenschädigung durch Zuckererkrankung)

Unter dem Begriff "diabetische Polyneuropathie“ werden mehrere Erkrankungen unterschiedlicher Manifestation zusammengefasst, die infolge eines Diabetes mellitus entstehen und verschiedene Regionen des peripheren oder autonomen Nervensystems betreffen können.
Kurzfassung:
- Der diabetischen Polyneuropathie liegen dauerhaft zu hohe Blutzuckerwerte zugrunde.
- Die Symptome können in Plus-Symptome und Minus-Symptome eingeteilt werden.
- Grundlage jeder Therapie ist eine optimale Einstellung des Diabetes und anderer vorhandener Risikofaktoren.
- Eine spezifische medikamentöse Therapie existiert bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
- Die Symptome können durch eine Reihe von Medikamenten gelindert werden.
Grundlegendes zur diabetischen Polyneuropathie
Der Begriff "diabetische Polyneuropathie“ beschreibt nicht eine einzelne Erkrankung, sondern eine Gruppe unterschiedlicher Krankheiten, denen allen eine Funktionsstörung des Nervensystems gemeinsam ist. Dieser Funktionsstörung liegt die Zuckerkrankheit Diabetes zugrunde.
8–54% aller Typ-1-Diabetiker und 13–46% aller Typ-2-Diabetiker entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Polyneuropathie. Die Polyneuropathie ist eine häufige Komplikation des Diabetes und tritt bei bis zu 50% der Betroffenen auf. Generell ist bei Typ-2-Diabetes die Polyneuropathie häufiger als bei Typ-1-Diabetes.
Typische Symptome der Polyneuropathie treten bei gut einem Drittel aller Diabetiker auf.
+++ Mehr zum Thema: Diabetes +++
Risikofaktoren für die Entstehung einer diabetischen Polyneuropathie
- Dauer des Diabetes
- Einstellung des Diabetes
- Alter
- Bluthochdruck
- Fettstoffwechselstörung
- Gefäßerkrankungen
- Bereits manifeste Spätkomplikationen an den Augen oder der Niere
- Lebensgewohnheiten (Übergewicht, Alkohol, Nikotinkonsum)
Aufgrund der vergleichsweise hohen Wahrscheinlichkeit, im Zuge eines Diabetes eine diabetische Polyneuropathie zu entwickeln, ist eine jährliche neurologische Kontrolluntersuchung Bestandteil jeder Diabetestherapie.
+++ Mehr zum Thema: Wie wird Diabetes behandelt? +++
Wie entsteht eine diabetische Polyneuropathie?
An der Entwicklung der diabetischen Polyneuropathie sind komplexe, durch die Hyperglykämie – also hohe Blutzuckerwerte – bedingte Mechanismen beteiligt. Dabei werden schädliche Substanzen in den Nerven und in den die Nerven versorgenden Blutgefäßen abgelagert, die diese in weiterer Folge schädigen. Diese Substanzen werden "Advanced Glycation End Products“ (AGE) genannt. Es handelt sich um "verzuckerte“ Proteine, die durch dauerhaft erhöhte Zuckerwerte im Blut entstehen, über einen Rezeptor in der Nervenzelle eine Entzündung verursachen und die Expression von Genen sowie die Signalgebung der Zelle stören.
Gleichzeitig häufen sich Stoffwechselprodukte der Glukose, wie Sorbitol und Fruktose, im Zellinneren an, wodurch zelluläre Mechanismen gestört werden und es zur vermehrten Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies (sog. Sauerstoffradikale) kommt. Zusätzlich kann auch die lokale Durchblutung eingeschränkt sein. Weiters ist die Nervenregeneration bei Diabetes beeinträchtigt. Die Summe dieser negativen Einflüsse führt schlussendlich zur Schädigung bzw. zum Absterben der Nervenzellen.
+++ Mehr zu Thema: Diabetische Retinopathie +++
Welche Symptome treten bei einer diabetischen Polyneuropathie auf?
Es gibt mehrere Formen der Wahrnehmung. Unterschieden wird zwischen Plus- und Minus-Symptomen.
Zu den Plus-Symptomen gehören:
- Brennen
- Kribbeln
- Stechen
- einschießende Schmerzen
- elektrisierende Schmerzen
Plus-Symptome treten insbesondere in den Nachtstunden auf und stören den Schlaf der Betroffenen. Meist sind die Füße und Beine betroffen, seltener auch Hände und Arme.
Zu den Minus-Symptomen zählen:
- vermindertes Vibrationsempfinden
- vermindertes Temperaturempfinden
- Miss- oder Fehlempfindungen
- Taubheitsgefühl
Durch die Nervenschädigung kann ebenso die Muskelfunktion beeinträchtigt werden, was sich durch eine verminderte Muskelkraft in Armen und Beinen bemerkbar macht. Durch die Kombination von eingeschränkter Sensibilität und reduzierter Kraft kommt es bei vielen Betroffenen zu Problemen mit dem Gleichgewicht. Diese Probleme sind oft bei Dunkelheit oder unebenem Untergrund verstärkt.
Auch innere Organe können durch die Schädigung des autonomen Nervensystems bei der diabetischen Neuropathie in Mitleidenschaft gezogen werden.
Generelle Beschwerden umfassen:
- Schwindelgefühl, insbesondere beim Aufstehen
- Übelkeit und Erbrechen nach dem Essen
- Durchfall oder Verstopfung
- ungewollter Harnverlust (Inkontinenz) oder Probleme bei der Blasenentleerung
- Schwierigkeiten beim Wahrnehmen von niedrigem Blutzucker
- Impotenz bei Männern und eingeschränkte Sexualfunktion
- Nichtwahrnehmung von Organschmerzen (z.B. Herzschmerzen)
+++ Mehr zum Thema: Diabetische Hypoglykämie +++
Wie stellt der Arzt die Diagnose?
Die Diagnose wird mithilfe der Anamnese (Erhebung der Krankengeschichte), einer körperlichen Untersuchung und einer spezifischen neurologischen Untersuchung anhand folgender Kriterien gestellt:
- Symptome
- Reflexuntersuchung mithilfe eines Reflexhammers
- Überprüfung der Sensibilität, insbesondere auch Vibrationsuntersuchungen mithilfe einer Stimmgabel
- Blutdruckmessung (stehend und liegend)
- Elektrokardiogramm (EKG)
- Elektromyogramm (EMG)
- Elektroneurografie (ENG)
- ggf. weiterführende Untersuchungen (u.a. quantitativ-sensorische Testung, Hautbiopsie, Nervenultraschall)
+++ Mehr zum Thema: Gestationsdiabetes +++
Wie wird die diabetische Polyneuropathie behandelt?
Am wichtigsten ist es, den Blutzucker möglichst optimal einzustellen. Dies hilft direkt gegen die Entstehung einer Polyneuropathie bzw. deren Voranschreiten. Da am häufigsten die Füße betroffen sind, ist es von Bedeutung, dass diese täglich untersucht werden. So können Verletzungen rechtzeitig entdeckt und behandelt werden. Gleichzeitig werden alle vorliegenden Begleiterkrankungen, beispielsweise Fettstoffwechselstörungen oder Bluthochdruck, bestmöglich mittherapiert.
Eine ursächliche medikamentöse Therapie ist bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht verfügbar. Es können allerdings die zum Teil äußerst quälenden Beschwerden effektiv gelindert werden.
In der symptomatischen Therapie zum Einsatz kommen:
- Antikonvulsiva (u.a. Gabapentin, Pregabalin, Carbamazepin)
- trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin)
- selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (Duloxetin, Venlafaxin)
- Opioide (Tramadol, Tapentadol, Hydromorphon)
Zusätzlich können auch physikalische Maßnahmen, z.B. Stromtherapie (TENS-Gerät), zum Einsatz kommen. Es gibt auch Studien zum Effekt von Alpha-Liponsäure bei der diabetischen Polyneuropathie. Zusätzlich kann, vor allem bei an den Füßen lokalisierten Schmerzen, eine Behandlung mit Capsaicin (z.B. als Pflaster) versucht werden.
Autoren:
Univ.Prof. Dr. Martin Clodi, Christopher Waxenegger
Medizinisches Review:
Dr. med. Michael Stingl
Redaktionelle Bearbeitung:
Mag. Astrid Leitner
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