Anti-Müller-Hormon

Von , Biologin
Dr. Nicole Wendler

Nicole Wendler ist promovierte Biologin aus dem Bereich Onkologie und Immunologie. Als Medizinredakteurin, Autorin und Lektorin ist sie für verschiedene Verlage tätig, für die sie komplizierte und umfangreiche medizinische Sachverhalte einfach, prägnant und logisch darstellt.

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Das Anti-Müller-Hormon (AMH) gibt Aufschluss darüber, wie viele Eizellen eine geschlechtsreife Frau produziert. Damit ist der AMH-Wert in erster Linie wichtig in der Reproduktionsmedizin. Er wird insbesondere bei der Familienplanung, unerfülltem Kinderwunsch und einer Sterilitätstherapie relevant. Lesen Sie hier, wie das Anti-Müller-Hormon bestimmt wird und welche Aussagekraft es hat.

Anti-Müller-Hormon

Was ist das Anti-Müller-Hormon?

Das Anti-Müller-Hormon (benannt nach dem deutschen Anatom Johannes Peter Müller) spielt eine wichtige Rolle in der Embryonalentwicklung: Etwa zwischen der achten und elften Schwangerschaftswoche regelt es die Differenzierung der Geschlechtsorgane. Wird es ein Junge, produzieren die sogenannten Sertolizellen des embryonalen Hodens das Anti-Müller-Hormon (AMH). Als Folge davon bilden sich die paarigen Müller-Gänge zurück. Bei einem weiblichen Embryo ist kein Anti-Müller-Hormon vorhanden - die beiden Müller-Gänge bleiben bestehen und entwickeln sich zu Gebärmutter, Eileiter und Vagina.

Erst in der Pubertät spielt das Hormon auch bei der Frau eine Rolle. Dann produzieren die Eierstöcke - genau genommen die dort befindlichen Granulosazellen - das Anti-Müller-Hormon. Diese Zellen umgeben die heranwachsenden stimulierbaren Eibläschen (Follikel), die nach Ausreifung jeweils eine befruchtungsfähige Eizelle entlassen können (Eisprung). AMD reguliert das Follikelwachstum.

Wie viel Anti-Müller-Hormon im Körper vorhanden ist, lässt sich über eine Blutanalyse bestimmen.

Anti-Müller-Hormon: Klinische Bedeutung

Frauen

Die AMH-Konzentration korreliert bei Frauen mit der Anzahl reifungsfähiger Follikel im Eierstock (Ovar). Somit können Reproduktionsmediziner über das Hormon auf die sogenannte ovarielle Funktionsreserve rückschliessen: Findet sich im Blut wenig Anti-Müller-Hormon, ist die Menge heranwachsender stimulierbarer Eibläschen reduziert. Dieses Wissen ist wichtig bei der Abklärung von Sterilität sowie bei einer geplanten In-vitro-Fertilisation (IVF).

Neben der ovariellen Reserve ist die Bestimmung des Anti-Müller-Hormons aber auch noch bei anderen klinischen Fragestellungen relevant. Zusammengefasst wird AMD bei Frauen in folgenden Fällen bestimmt:

  • Abschätzung der ovariellen Funktionsreserve und des Fruchtbarkeitspotenzials (etwa bei Zyklusstörung und unerfülltem Kinderwunsch)
  • Prognose bei künstlicher Befruchtung mittels In-Vitro-Fertilisation (IVF)
  • Abschätzung der hormonellen Stimulierbarkeit der Eierstöcke für eine künstliche Befruchtung
  • Vorhersage der Menopause (Wechseljahre)
  • Verlaufskontrolle bei Granulosazelltumor
  • Beurteilung einer Schädigung der Eierstöcke durch Chemo- oder Strahlentherapie (der AMH-Wert sinkt dosisabhängig, da die zytotoxische Therapie die aktiven Eizellfollikel zerstört)
  • Multiple Eierstockzysten im Rahmen des polyzystisches Ovarialsyndroms (Anti-Müller-Hormon zu hoch)

Männer

Das Anti-Müller-Hormon wird bei Männern im Zusammenhang mit folgenden Fragenstellungen gemessen:

  • Infertilität bei bestehender oder frührerer Störung des Hodenabstiegs (durch den Leistenkanal in den Hodensack)
  • Fehlen von Spermien im Ejakulat (Azoospermie)

Kinder / Jugendliche

Die Messung des AMD-Werts kann angezeigt sein im Rahmen folgender Fragestellungen:

  • vorzeitige Pubertät (Pubertas praecox: AMD erniedrigt) oder verzögerte Pubertät (Pubertas tarda: AMD erhöht)
  • intersexuelle Fehlbildungen / Erkrankungen
  • Hodenhochstand (Kryptorchismus oder Hodendystrophie)
  • Fehlen oder vollständige Funktionsunfähigkeit beider Hoden (Anorchie)

Anti-Müller-Hormon: Normwerte

Bei erwachsenen fruchtbaren Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren befinden sich in einem Milliliter Blut zwischen einem und 5 Nanogramm Anti-Müller-Hormon, gelegentlich auch etwas mehr. Ab dem 30. Lebensjahr sinken die AMH-Konzentrationen. Liegt der Wert unter einem Nanogramm pro Milliliter, sind wenig stimulierbare Eizellen vorhanden und die ovarielle Funktion gilt als eingeschränkt.

Die Anti-Müller-Hormon-Tabelle gibt einen Überblick über die Referenzbereiche:

Frauen

Anti-Müller-Hormon

Normale Fertilität

1 bis 5 ng/ml

Ovarielle Restfunktion

0,8 bis 1,0 ng/ml

Menopause

< 0,1 ng/ml

Polyzystisches Ovarialsyndrom

5,0 bis 15,0 ng/ml

Männer

Normwert

3,0 bis 5,4 ng/ml

Anti-Müller-Hormon bei Kinderwunsch

Die ovarielle Funktionsreserve ist insbesondere für Frauen über 30 mit Kinderwunsch interessant. Haben Sie Schwierigkeiten, auf natürlichem Weg schwanger zu werden, sind möglicherweise zu wenig reifungsfähige Follikel im Eierstock vorhanden. In diesem Fall hilft die Bestimmung des Anti-Müller-Hormons weiter.

Fachleute empfehlen, zusätzlich die Follikel im Ultraschall zu zählen sowie das follikelstimulierende Hormon (FSH) und Östradiol zu bestimmen. Anhand des AMH lässt sich ausserdem der Erfolg einer In-Vitro-Fertilisation (IVF) abschätzen und eine hormonelle Stimulationstherapie individueller dosieren.

Ist das Anti-Müller-Hormon zu niedrig (< 1,0 ng/ml), sind bei der IVF höhere Hormondosen (FSH, Gonadotropin) nötig, um ausreichend Eizellen zu erhalten. Auch eine mögliche ovarielle Überreaktion nach Stimulation ist mit Hilfe des AMH-Werts einigermassen gut vermeidbar. Ein einheitlicher AMH-Schwellenwert für eine zu erwartende Überstimulation existiert aber aufgrund unterschiedlicher Definitionen, Stimulations- und Nachweismethoden bisher nicht.

Das Anti-Müller-Hormon und die biologische Uhr

Die biologische Uhr tickt – allerdings nicht bei jeder Frau gleich schnell. Zwar nimmt die Serumkonzentration des Anti-Müller-Hormons mit dem Alter ab, einen direkten Zusammenhang mit dem biologischen Alter gibt es jedoch nicht. Vielmehr lässt sich anhand des Anti-Müller-Hormons das ovarielle Alter abschätzen. Die Anzahl an Keimzellen wird bei Geburt festgelegt und nimmt dann kontinuierlich ab - allerdings individuell unterschiedlich schnell. Ein niedriger AMH-Wert kann darauf hinweisen, dass die Eizellreserve zur Neige geht. Doch der Wert allein reicht nicht aus, um die Chancen auf eine Schwangerschaft vorherzusagen. Auch andere Faktoren, wie beispielsweise die Qualität der Eileiter oder der Spermien des Partners, entscheiden über den Erfolg.

Wechseljahre: Anti-Müller-Hormon im Sinken

Die Funktion der Eierstöcke wird mit dem Alter schlechter, bis die Monatsblutung schliesslich ausbleibt, und die Menopause beginnt. In welchem Lebensabschnitt dies geschieht, ist von Frau zu Frau allerdings sehr unterschiedlich. Bei den meisten treten die ersten Symptome im Alter von etwa 50 Jahren auf. Bei mancher Frau erschöpft sich die ovarielle Reserve aber bereits vor dem 40. Lebensjahr (prämature Ovarialinsuffizienz), bei anderen erst mit Anfang 60.

Etwa drei bis fünf Jahre vor Eintritt der Wechseljahre sinkt das Anti-Müller-Hormon unter die Nachweisgrenze. In der Altersspanne zwischen 45 und 50 ist das Hormon oftmals kaum noch messbar. Dennoch lassen sich weder Fragen zu Schwangerschaftschancen noch zum exakten Beginn der Menopause oder zum noch bestehenden Verhütungsbedarf anhand von ANH-Werten eindeutig beantworten.

Anti-Müller-Hormon erhöhen

Bei Raucherinnen ist meist weniger Anti-Müller-Hormon nachweisbar als bei Nichtraucherinnen. Dabei scheint die konsumierte Nikotinmenge keine Rolle zu spielen. Frauen mit schlechtem AMH-Wert und Kinderwunsch sollten sich besser jede Zigarette verkneifen.

Möglicherweise kann die Einnahme von DHEA (Dehydroepiandrosteron), einem Steroidhormon, die Geburtenrate bei Frauen mit schlechtem AMH-Wert verbessern. Bislang existieren hierzu aber wenig Daten. DHEA ist in Deutschland verschreibungspflichtig.

Wie aussagekräftig ist der AMH-Wert?

Die AMH-Konzentration ist unabhängig von der Verhütung (Kontrazeption) und bleibt im Zyklusverlauf konstant, sodass sich das Anti-Müller-Hormon zu jedem Zeitpunkt bestimmen lässt - so die verbreitete Meinung. Damit scheint der Test auf den ersten Blick einfach und sicher, doch die Datenlage ist widersprüchlich: Neuere und umfangreichere Studien konnten zeigen, dass der Wert vor allem bei jungen Frauen durchaus zyklusabhängig schwankt und vor dem Eisprung abfällt. Auch lässt eine hormonelle Verhütung, je länger sie angewandt wird, den Wert offenbar deutlich (um bis zu 30 Prozent) sinken. Uneinigkeit herrscht zudem über die AMH-Werte im Verlauf einer Schwangerschaft.

Wichtig ist ausserdem, dass der AMH-Wert nichts über die Qualität der Eizellen aussagt. So kann zwar eine ausreichende ovarielle Reserve vorhanden sein, aber die Eizellen sind von so schlechter Qualität, dass eine Schwangerschaft erschwert ist. Oder Eizellreserve und -qualität sind zufriedenstellend, aber die Eileiter aufgrund von Verklebungen nicht durchgängig für Eizelle beziehungsweise Spermien. Nichtsdestotrotz gilt das Anti-Müller-Hormon unter Reproduktionsmedizinern momentan als der beste Parameter zur Beurteilung der ovariellen Reserve und der Fertilität.

Und was, wenn das Anti-Müller-Hormon zu niedrig oder gar nicht messbar ist? Betroffene Frauen sollten nicht gleich verzweifeln. Auch wenn die Chancen im Rahmen reproduktionsmedizinischer Massnahmen, schwanger zu werden, bei einem schlechten AMD-Wert deutlich sinken, ist eine Schwangerschaft nicht unbedingt ausgeschlossen. Solange sich noch regelmässig Monatsblutungen einstellen, ist auch bei niedrigem oder nicht messbarem Anti-Müller-Hormon davon auszugehen, dass noch Eizellen zur Verfügung stehen.

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Autor:
Dr. Nicole Wendler
Dr.  Nicole Wendler

Nicole Wendler ist promovierte Biologin aus dem Bereich Onkologie und Immunologie. Als Medizinredakteurin, Autorin und Lektorin ist sie für verschiedene Verlage tätig, für die sie komplizierte und umfangreiche medizinische Sachverhalte einfach, prägnant und logisch darstellt.

Quellen:
  • Dietrich, K. et al.: Reproduktionsmedizin. Springer-Verlag, 2. Auflage, 2020
  • Gleicher, N. et al.: "Anti-Müllerian hormone (AMH) defines, independent of age, low versus good live-birth chances in women with severely diminished ovarian reserve" in: Fertil Steril. 2010 Dec;94(7):2824-7.
  • Gnoth, C.: "Das Anti-Müller-Hormon. Ein Blick auf die biologische Uhr?" in: Gynäkologische Endokrinologie 9, 238–246 (2011)
  • IMD Institut für Medizinische Diagnostik Berlin-Potsdam GbR: "Anti-Müller-Hormon (AMH)" unter: www.imd-berlin.de (Abruf: 22.01.2021)
  • Kallio, S. et al.: "Antimüllerian hormone levels decrease in woman using combined contraception independently of administration route" in: Fertil Steril. 2013 Apr; 99(5):1305–10.
  • Ludwig, M. et al.: Kinderwunschsprechstunde. Springer-Verlag, 3. Auflage, 2015
  • Medizinisches Versorgungszentrum Dortmund: "Anti-Müller-Hormon (AMH)" unter: www.medizin-zentrum-dortmund.de (Abruf: 22.01.2021)
  • Nawroth, F. et al.: "Bewertung von ovarieller Reserve und Fertilität mit steigendem Lebensalter" in: J Reproduktionsmed Endokrinol 2014; 11 (1), 6-11
  • Overbeek, A. et al.: "Intra-cycle fluctuations of anti-Müllerian hormone in normal women with regular cycle: a re-analysis" in: Reprod Biomed Online. 2012 Jun;24(6):664–9.
  • Schäffler, A.: Funktionsdiagnostik in Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel. Springer-Verlag, 4. Auflage, 2018
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