Corona: Können Mutationen die Immunabwehr umgehen?

Neue Untersuchungen geben Aufschluss darüber, welchen Einfluss die neuen Coronavirus-Mutationen auf die Anpassung und Resistenzbildung von SARS-CoV-2 haben könnten.
Mehrere Mutationen des Coronavirus sorgen derzeit für Beunruhigung – nicht nur weil sie ansteckender sind. Einige dieser Virusvarianten weisen Mutationen auf, die auf eine beginnende "Flucht" vor unserer Immunabwehr hindeuten. Ob SARS-CoV-2 dadurch eventuell immun gegen unser Das Immunsystem sowie gegen die neuen Impfstoffe werden könnte, ist derzeit noch unklar.
Neue Virusvarianten sind ansteckender
Viren mutieren ständig, so auch das Coronavirus SARS-CoV-2. Die meisten dieser Mutationen sind harmlos. Doch nun geben seit einigen Wochen neue Virusvarianten Anlass zur Sorge. Denn diese weisen gleich mehrere gemeinsame Mutationen auf, die das Virus infektiöser und damit auch gefährlicher zu machen scheinen. Zu ihnen gehört:
- die britische Variante B.1.1.7
- die südafrikanische Variante 501.V2 und seit kurzem
- die P.1-Variante aus Brasilien.
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Umgehen Mutationen das Immunsystem?
Wissenschafter beschäftigen sich nun auch mit der Frage, ob SARS-CoV-2 auch sogenannte Flucht-Mutationen (auch "Escape-Mutation") ausbildet, durch die das Virus die körpereigene Immunantwort seines Wirts umgehen kann. Demnach können sich die Proteinstrukturen des Virus durch Mutationen so verändern, dass die Antikörper und Abwehrzellen des Immunsystems dort nicht mehr andocken können. Die Folge: Der aufgebaute Immunschutz nach durchlebter Erkrankung oder nach einer Impfung wird abgeschwächt oder sogar unwirksam.
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E484 behindert Immunantwort
Forscher um Allison Greaney von der University of Washington in Seattle haben nun eine Mutation im Blutserum von genesenen COVID-19-Patienten entdeckt, die die menschliche Immunantwort zumindest behindert. "Die Stelle, an der Mutationen den größten Effekt auf die Antikörper-Bindung und Neutralisation haben, ist unglücklicherweise E484 – der Ort, an dem mehrere aktuelle Coronavirus-Varianten eine Mutation tragen", berichten die Wissenschafter. Sowohl die südafrikanische als auch die brasilianische Mutante von SARS-CoV-2 weisen diese Mutation auf. Demnach verringerte diese Mutation die Wirkung der Antikörper um das Zehnfache. Laut Greany und ihrem Team bedeutet dies allerdings nicht, dass Impfstoffe oder unsere natürliche Immunantwort auf SARS-CoV-2 nun zehnmal weniger wirksam sind. "Die neutralisierende Wirkung mehrerer Serumproben war zwar um das Zehnfache reduziert, es gab aber auch einige Proben, die von der E484-Mutation kaum beeinträchtigt waren", so die Forscher. Die meisten Menschen produzieren Antikörper nämlich nicht nur gegen eine Stelle des viralen Proteins, sondern gegen mehrere verschiedene. Dadurch kann das Virus auch durch Angriff an anderen Stellen bekämpft werden.
Durchseuchung begünstigt Mutationen
Die Ergebnisse der Studie zeigen allerdings auch, dass das Coronavirus bereits erste Flucht-Anpassungen an unser Immunsystem gebildet hat. Experten vermuten, dass derartige Virus-Anpassungen vor allem dort stattfinden, wo die Bevölkerung zumindest schon teilweise durchseucht ist und gegen das Virus immunisiert ist. Dadurch würden sich Mutanten durchsetzen, die sich zufällig gebildet haben und sich dadurch weiterhin verbreiten. Wissenschafter sprechen dabei auch vom sogenannten Antigendrift genannt.
Dies würde unter anderem auch erklären, warum sich vor allem in Südafrika und Brasilien die E484K-Mutation entwickelt und verbreitet hat. Denn dort liegt der Durchseuchungsgrad der Bevölkerung teils bei 40 bis 50 Prozent. „Unter diesen Bedingungen begünstigt der Selektionsdruck Virusmutanten, die sich trotz dieser Immunität ausbreiten können“, erklärt Andrew Pollard von der Oxford University im Fachmagazin BMJ. Hinweise darauf geben auch Berichte von Re-Infektionen in Brasilien. Demnach haben sich dort einige Menschen mit der neuen Coronavirus-Mutante infiziert, obwohl sie bereits eine frühere Infektion mit SARS-CoV-2 hatten.
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Kann man sich öfter mit SARS-CoV-2 infizieren?
Kathryn Kistler und Trevor Bedford vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle haben diese Antigen-Anpassung anhand von vier schon bekannten Erkältungs-Coronaviren – OC43, 229E, NL63 und HKU1 – ebenso untersucht. "Einige dieser Coronaviren können Menschen mehrfach infizieren, aber es ist unklar, in welchem Maße dies auf eine Antigen-Anpassung zurückgeht", erklären die Forscher. "Wir wollten daher untersuchen, ob diese mit SARS-CoV-2 verwandten Coronaviren Anpassungen gegen unser Immunsystem entwickelt haben." Dazu verglichen sie hunderte Erbgutsequenzen der vier Erkältungs-Coronaviren, die im Laufe von über 50 Jahren erstellt worden sind. Mit dem Ergebnis: bei zwei der vier Erkältungsviren fanden sich anpassende Mutationen im Spike-Protein. Diese entwickelten im Schnitt 0,3 bis 0,5 solcher Einzelmutationen pro Jahr – etwa halb so viele wie einige Influenzaviren. "Damit haben wir Belege dafür, dass mindestens zwei von vier saisonalen Coronaviren Anpassungen am Spike-Protein entwickelt haben", berichten die Wissenschafter. Das ist auch der Grund, warum man sich mehrfach im Leben mit diesen Viren anstecken und eine Erkältung bekommen kann.
Der Antigendrift konnte allerdings bei den anderen beiden Coronaviren NBL63 und HKU1 nicht bzw. nicht eindeutig nachgewiesen werden. Daher sei laut Forscher noch unklar, ob auch SARS-CoV-2 diese Fähigkeit besitzt. "Wenn aber SARS-CoV-2 sich ähnlich entwickelt wie der eng verwandte OC43, dann kann es sein, dass die Impfstoffe gegen COVID-19 häufiger angepasst werden müssen – ähnlich wie bei den Grippe-Impfstoffen", so Kistler und Bedford.
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Einfache Anpassung der Impfstoffe möglich
Laut Tropen- und Reisemediziner Herwig Kollaritsch könnten die aktuellen mRNA-Impfstoffe innerhalb von zwei Tagen angepasst werden, sollten sie nicht gegen neu auftretende SARS-CoV-2-Mutationen wirken. Dazu wäre auch kein neues Zulassungsverfahren notwendig, sondern lediglich eine Änderung der bestehenden Zulassung. "Wenn bereits eine Zulassung besteht und gewissermaßen nur ein Genstück ausgetauscht wird, sollte es mit der neuen Genehmigung recht schnell gehen", erklärt der Mediziner.
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Autoren:
Tanja Unterberger, Bakk. phil.
Redaktionelle Bearbeitung:
Mag. Astrid Leitner
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