Ammenmärchen zum Stillen – was ist dran?

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Frischgebackene Mütter haben es oft nicht leicht: Wohlmeinende Mitmenschen und unzählige Ratgeberbücher sind voll von Tipps, wie man ein Baby am besten versorgt. Besonders zum Thema Stillen kursieren viele Ratschläge, von denen sich aber manche bei genauerem Hinsehen als Ammenmärchen entpuppen. NetDoktor.de hat Hebammen und Stillberaterinnen zur "Märchenstunde" eingeladen und um Aufklärung gebeten.

ammenmärchen zum stillen

Mythos 1: „Stillende Mütter müssen sehr viel trinken“

Je mehr eine Frau trinkt, desto mehr Muttermilch sollen ihre Brüste produzieren. Was logisch klingt, ist dennoch falsch. „Es ist nicht nötig, mehr Flüssigkeit als üblich zu sich zu nehmen, um mehr Milch bilden zu können oder die Milchbildung aufrecht zu erhalten“, weiss Jasmin Kraftzig, Hebamme sowie Still- und Laktationsberaterin. „Die Milchbildung beginnt bereits in der 16. Schwangerschaftswoche und wird stimuliert durch das Zusammenspiel der Schwangerschafts- und Stillhormone. Nach der Geburt wird die Produktion des Milch bildenden Hormons (Prolaktin) durch das Saugen des Babys an der Brust angekurbelt. Je häufiger das Kind also gestillt wird, desto besser klappt die Milchproduktion.“

Wichtig für stillende Frauen sei es vor allem, auf einen guten Allgemeinzustand zu achten. Dazu trägt – neben anderen Faktoren wie einer ausgewogenen Kost – auch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr bei. Experten empfehlen stillenden Frauen, zwei bis zweieinhalb Liter Flüssigkeit pro Tag aufzunehmen, beispielsweise stilles oder kohlensäurearmes Mineralwasser und ungesüsste Kräuter- und Früchtetees. „Besondere Stilltees oder Stillsäfte sind nicht notwendig, da deren Wirksamkeit sehr unwahrscheinlich ist“, so Kraftzig.

Weitere Faktoren, die zu einem erfolgreichen Stillen beitragen könnten, seien viel Hautkontakt zwischen Mutter und Baby, das korrekte Anlegen, um Schmerzen zu vermeiden sowie eine vollständige Entleerung der vorhandenen Milch. Kraftzig: „Ausserdem ist eine harmonische und entspannte Atmosphäre wichtig, da sich Stress hemmend auf die Milchbildung auswirken kann.“
Jsmin Kraftzig, Hebamme, Still- & Laktationsberaterin IBCLC
www.hebamme-kraftzig.de

Mythos 2: „Stillende Mütter dürfen vieles nicht essen“

Nichts Blähendes, nichts Scharfes, keine Zitrusfrüchte? Damit das Kind keine Blähungen, Bauchschmerzen, einen wunden Po oder gar Allergien bekommt, wird stillenden Müttern oft zu Einschränkungen in ihrem Speiseplan geraten. Notwendig ist dies allerdings nicht. „Schon in der Schwangerschaft lernen Babys die Ernährungsgewohnheiten ihrer Mütter kennen“, erklärt Sandra Deissmann vom Berufsverband Deutscher Laktationsberaterinnen IBCLC e.V. „Über das Fruchtwasser, von dem die Kinder trinken, werden sie mit der Vielfalt der eigenen Familienküche vertraut gemacht. In der Muttermilch wird dieser vertraute Geschmack von den Babys sogar wiedererkannt, gut vertragen und bevorzugt.“

Das zeigten auch Erfahrungen aus anderen Kulturkreisen. „Indische Babys sind die ausgesprochen scharfe Ernährung ihrer Mütter gewohnt“, so Deissmann. „Und Babys aus Familien, in denen viel Knoblauch gegessen wird, bevorzugen Muttermilch mit Knoblauchgeschmack.“ Babys lernen also bereits in der Schwangerschaft, die Nahrung der Mutter zu vertragen.

Daher lautet der Rat der Expertin: „Stillende Mütter sollten sich ausgewogen und abwechslungsreich ernähren. Auch wenn für das Baby ein erhöhtes Risiko besteht eine Allergie zu entwickeln, kann die Mutter dies nicht verhindern, indem sie auf potenzielle Allergieauslöser in ihrer Ernährung verzichtet. Eher im Gegenteil: Ein vielseitiger Speiseplan der Mutter scheint beim Baby die Toleranz für Allergene, die in kleinsten Mengen über die Muttermilch aufgenommen werden, zu erhöhen.“

Und noch ein Tipp: „Rohe Lebensmittel vom Tier wie Rohmilch, Fleisch, Fisch oder Eier, auf die in der Schwangerschaft verzichtet werden sollte, dürfen in der Stillzeit wieder gegessen werden.“
Sandra Deissmann, Still- & Laktationsberaterin IBCLC, Gesundheits- & Kinderkrankenpflegerin, Vorstandsmitglied des Berufsverband Deutscher Laktationsberaterinnen IBCLC e.V.
www.stillberatung-deissmann.de

Mythos 3: „Wunde Brustwarzen sind normal und nicht zu vermeiden“

Wenn ein Baby alle paar Stunden an den mütterlichen Brustwarzen saugt, ist es doch kein Wunder, dass die empfindliche Haut bald wund wird, oder? „Nein, das stimmt nicht“, widerspricht die Hebamme Regine Gresens. „Wunde Brustwarzen kommen zum Beginn der Stillzeit zwar häufig vor, aber deshalb sind sie noch lange nicht normal.“ Nur weil heutzutage so viele neue Mütter davon betroffen sind, würden beim Stillen Schmerzen und wunde Brustwarzen erwartet und als unvermeidlich angesehen.

In den allermeisten Fällen sei die Ursache wunder Brustwarzen aber eine ungünstige Stillposition und Anlegetechnik. „Salben, Cremes und andere Mittel helfen hier oft nur unzureichend, da sie nur das Symptom, aber nicht die Ursache behandeln. Meistens hat das Baby mit seinem Mund nicht genug Brust erfasst, sodass die Brustwarze nicht tief im hinteren Mundraum liegt“, erklärt Gresens.

Voraussetzung, damit wunde Brustwarzen wirklich abheilen beziehungsweise gar nicht erst entstehen, ist also das richtige Anlegen des Kindes beim Stillen: Ob Ihr Kind richtig an Ihrer Brust saugt, erkennen Sie etwa daran, dass sein Mund weit geöffnet ist („Mund voll Brust“), die Lippen nach aussen gestülpt sind und sein Kinn die Brust berührt. Ausserdem befindet sich die Nase des Babys dann nahe der Brust und die Wangen sind beim Saugen nicht eingezogen, sondern rund – es sind also keine Grübchen sichtbar.

Werden Babys auf diese Weise richtig angelegt, sind wunde Brustwarzen meist kein Thema. Wenn doch, sollten Frauen schnellstens qualifizierte Hilfe suchen. „Je früher Sie das tun, desto schneller lässt sich das ursächliche Problem lösen und desto eher können Sie anfangen, das Stillen zu geniessen“, sagt Gresens.
Regine Gresens, Hebamme, Still- & Laktationsberaterin IBCLC, Heilpraktikerin für Psychotherapie (HPG)
www.stillkinder.de

Mythos 4: „Stillen führt zu Übergewicht bei Babys“

Bloss nicht stillen, dabei kann man das Baby leicht überfüttern, und es wird zu dick, fürchten manche Mütter. Die Hebamme Jana Friedrich gibt Entwarnung: „Nein, Stillen führt bei Babys nicht zu Übergewicht.“ Das belegen auch wissenschaftliche Untersuchungen. „Im Jahr 1999 gab es die bislang grösste Studie zu still- und frühkindlichen Ernährungsgewohnheiten in Zusammenhang mit Übergewicht“, berichtet Friedrich. „Das Ergebnis: Kinder, die gestillt wurden, waren mit fünf bis sechs Jahren seltener übergewichtig. Und: Je länger die Stilldauer, desto seltener das Übergewicht.“

Wenn es um das Thema Babys und Übergewicht geht, muss man sich zudem die Frage stellen: Wann ist ein Kind zu dick? „Die Wachstumskurven (Perzentilenkurven), die wir heute immer noch grösstenteils benutzen, beruhen auf Daten von Kindern, die mehrheitlich nicht gestillt wurden“, sagt Friedrich. „Ausserdem sind die Kinder heute von Geburt an schwerer als noch vor 50 Jahren.“ Das führe bisweilen zu Irritationen.

Noch ein weiterer Punkt ist der Hebamme in diesem Zusammenhang wichtig: „Babys sind Babys – und keine Models!“ Das Wort Babyspeck komme nicht von ungefähr. „Babys dürfen, nein, sie sollen diese zusätzlichen Reserven haben. Diese sind eine Vorsorgemassnahme für schlechte Zeiten.“ In der Steinzeit waren dies tatsächliche Mangelzeiten. „Heute dient der Babyspeck als Reserve für Krankheits- oder Zahnungszeiten oder einfach für Zeiten besonders starken Wachstums oder grossen Bewegungsdrangs“, so die Hebammen. Das gelte übrigens sowohl für gestillte als auch für flaschenernährte Kinder.
Jana Friedrich, Hebamme und Bloggerin
www.hebammenblog.de

Mythos 5: „Frauen mit Flach- oder Hohlwarzen können nicht stillen“

Hat die Frau keine „normalen“ Brustwarzen, sondern Flach- oder Hohlwarzen, kann das Baby nicht richtig daran saugen, warnen manche selbsternannten Still-Experten. Von solchen Aussagen sollten sich Mütter aber keinesfalls verunsichern lassen. „Flach- und Hohlwarzen können zwar beim Stillen Probleme verursachen, das muss aber nicht zwangsläufig so sein“, betont die AFS-Stillberaterin Angela Schickhoff. „Und wenn solche Probleme auftreten, lassen sie sich in den allermeisten Fällen überwinden.“

Bei Flach- und Hohlwarzen hebt sich die Brustwarze kaum oder gar nicht vom Warzenvorhof ab. „Flachwarzen lassen sich durch Druck mit Zeigefinger und Daumen auf den Warzenhofaussenrand oder durch Stimulation aber hervorholen, sodass es beim Stillen häufig keine Probleme gibt“, erklärt Schickhoff. Man könne die Flachwarzen vor dem Stillen auch stimulieren, damit sie hervortreten.

Anders ist der Fall bei Hohlwarzen (Schlupfwarzen): Sie richten sich auch bei Fingerdruck hinter dem Warzenvorhof oder bei Stimulation nicht auf, sondern ziehen sich in den Warzenvorhof zurück, sodass dem Kind das Ansaugen schwer fällt. Der Tipp der Stillberaterin: „Bei echten Hohlwarzen kann es sinnvoll sein, vor dem Stillen die Warze beispielsweise mittels Pumpe herauszuziehen, damit das Baby die Brust besser erfassen kann.“

Zuweilen werden auch Hilfsmittel empfohlen wie Stillhütchen (zum leichteren Anlegen des Kindes) oder spezielle Brustschilde (Brustwarzenformer), die schon in der Schwangerschaft in den BH eingelegt werden können und das Hervortreten der Brustwarzen fördern sollen. „Allerdings kann man auch ohne deren Verwendung in der Regel erfolgreich stillen“, sagt Schickhoff. Wer dennoch solche Hilfsmittel für das Stillen anwenden möchten, sollte sich bei einer Hebamme sorgfältig über die richtige Anwendung sowie die verschiedenen Vor- und Nachteile informieren. Besonders auf die korrekte Reinigung und Desinfektion muss geachtet werden, um Infektionen bei Mutter und Kind zu vermeiden.
Angela Schickhoff, AFS-Stillberaterin
www.stillen-in-potsdam.de

Mythos 6: „Muttermilch ist nach dem 6. Monat nicht mehr nahrhaft“

Ab dem sechsten Lebensmonat sei Muttermilch nicht mehr das, was der heranwachsende Säugling braucht, befürchten viele Mütter. Eine völlig unbegründete Sorge, beruhigt die „La Leche Liga Deutschland e.V.“. Die gemeinnützige Organisation berät Frauen zu allen wichtigen Fragen rund um das Thema Stillen. Sie weiss: Für den heranwachsenden Säugling bleibt auch im zweiten Lebenshalbjahr die Muttermilch neben der Beikost die wertvollste Nahrung. Denn sie hat einen höheren Kalorien- und Nährstoffgehalt als viele andere Lebensmittel. „Lassen Sie sich von der flüssigen Konsistenz nicht täuschen“, so die La Leche Liga. „Die Muttermilch verfügt über einen Energiegehalt von etwa 68 Kilokalorien pro 100 Milliliter und sättigt auch nach dem sechsten Lebensmonat gut.“ Zum Vergleich: Gekochter Karottenbrei kommt nur auf etwa 27 Kilokalorien pro 100 Milliliter, 100 Gramm Apfel auf rund 52 Kilokalorien.

Besonders wichtig: Der Anteil der Immunstoffe in der Muttermilch nimmt jeweils nach sechs und nach zwölf Monaten Stillzeit sogar wieder zu. Ein wichtiger Schutz für den Säugling. „Keine Sorge also, wenn ein Kind auch mit der Beikost weiterhin häufig gestillt werden möchte“, sagen die Stillexpertinnen der La Leche Liga. Auch wenn übliche Beikostpläne dies vielleicht suggerierten: Der Säugling gebe von sich aus mit dem Kennenlernen neuer Kost seine wertvolle Muttermilch nicht auf. Diese helfe ihm sogar bei der Verdauung der ungewohnten Nahrung.
Susanne Wittmair, Buchautorin und Stillberaterin, La Leche Liga Deutschland e.V.
www.lalecheliga.de

Weitere Fragen? Hier finden Sie Hilfe!

Wer noch weitere Fragen zu Still-Mythen hat oder Hilfe bei einem konkreten Still-Problem braucht, sollte sich an eine Hebamme oder gut ausgebildete Stillberaterin wenden. Letztere erkennt man an der Bezeichnung IBCLC. Die Abkürzung steht für "International Board Certified Lactation Consultant" und garantiert eine lange und intensive Zusatzausbildung als Stillberaterin und die regelmässige Teilnahme an Fortbildungen.

Hebammen und Stillberaterinnen besitzen aber nicht nur fachliche Kompetenz, sondern leisten zudem seelischen Beistand. Deswegen sind sie für Mütter – und auch für Väter und Kinder – wichtige Vertrauenspersonen und Wegbegleiterinnen.

Autoren- & Quelleninformationen

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Wissenschaftliche Standards:

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

Quellen:
  • Kries, R. et al.: Breast feeding & obesity: cross sectional study. British Medical Journal 1999, 319: 147 - 150
  • Nationalen Stillkommission: Stillen – richtiges Anlegen und Saugen, Empfehlung vom 01. August 2007
  • Robert Koch-Institut (RKI): Themenblatt: Stillen (Stand: 02.07.2020), unter www.rki.de
  • Stiefel, A. et al.: Hebammenkunde, Georg Thieme Verlag, 2012
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