Pica-Syndrom

Von Christina Trappe
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Das Pica-Syndrom ist eine Essstörung, bei der Betroffene Dinge zu sich nehmen, die eigentlich nicht für den Verzehr geeignet sind – etwa Erde, Sand, Papier oder Textilien. Das Pica-Syndrom zeigt sich meist im Kleinkindalter, tritt aber manchmal auch bei Erwachsenen auf. Lesen Sie hier mehr über das Pica-Syndrom.

Frau im Badezimmer hat Schmerzen

Kurzübersicht

  • Ursachen und Risikofaktoren: Psychisches Fehlverhalten; verminderte Intelligenz und psychosoziale Belastungen gelten als Risiko. Auch Schwangerschaft oder Nährstoffmangel sind mögliche Ursachen.
  • Symptome: Verzehr von Dingen, die nicht geniessbar oder sogar ekelerregend sind. Vergiftungen, Verletzungen des Verdauungstrakts, Darmverschluss, Mangelernährung sind mögliche weitere Folgen.
  • Diagnose: Krankengeschichte, eventuell Tests und Fragebögen zu anderen psychischen Erkrankungen, körperliche Untersuchung auf Mangel, Vergiftungen oder Infektionen. In besonderen Fällen Röntgenuntersuchung des Darms.
  • Behandlung: Nahrungsergänzungsmittel etwa bei Schwangeren, Verhaltenstherapie, unter Umständen Psychopharmaka. Operation falls verschluckte Gegenstände potenziell lebensbedrohlich sind.
  • Prognose: Mit Verhaltenstherapie langfristig behandelbar. Bei Kindern verschwindet das Syndrom unter Umständen nach einigen Monaten von alleine.
  • Vorbeugen:Gutes Mutter-Kind-Verhältnis, richtiges Essen trainieren, geistige Anregung, Nährstoffmangel durch ausgewogene Kost vorbeugen.

Was ist das Pica-Syndrom?

Beim Pica-Syndrom handelt es sich um eine psychische Erkrankung aus der Gruppe der Essstörungen. Anders als bei der Magersucht (Anorexie), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und beim Binge-Eating-Syndrom steht beim Pica-Syndrom nicht die Menge, sondern die Art der verzehrten Substanzen im Vordergrund: Die Betroffenen essen vor allem Dinge, die nicht geniessbar oder sogar ekelerregend sind wie beispielsweise Sand, Malfarbe, Haare, Seife, Eis, Stärke, Mörtel oder Papier.

Ärzte sprechen von einer qualitativen Essstörung, Bulimie, Magersucht und Binge-Eating hingegen zählen zu den quantitativen Essstörungen.

Der Begriff Pikazismus bezeichnete ursprünglich die ungewöhnlichen Essgewohnheiten bei Schwangeren, wird aber heute synonym zum Pica-Syndrom verwendet. „Pica“ ist der lateinische Name der Elster, die als gieriger und nicht besonders wählerischer Vogel gilt.

Wer ist betroffen?

Das Pica-Syndrom betrifft vor allem Kleinkinder und ist dabei definiert als Verhalten, das der jeweiligen Entwicklungsstufe nicht angemessen ist. Normalerweise stellen Kinderärzte und -psychologen die Diagnose nicht vor dem zweiten Lebensjahr. Bei Erwachsenen kommt das Pica-Syndrom eher selten vor, dabei sind Frauen häufiger betroffen als Männer.

Vor allem in der Schwangerschaft neigen manche Frauen zu einem Essverhalten, das dem Pica-Syndrom nahekommt. Davon abzugrenzen ist allerdings ein kulturell oder religiös bedingtes Essverhalten, etwa das Essen bestimmter Erdsorten (Geophagie) bei bestimmten Naturvölkern.

Ursachen eines Pica-Syndroms

Das Pica-Syndrom wird mit verschiedenen Ursachen in Verbindung gebracht. Bei Kleinkindern sind folgende Risikofaktoren bekannt:

  • verminderte Intelligenz
  • psychosoziale Belastungen
  • Störungen der Mutter-Kind-Beziehung

Kinder- und Jugendpsychologen erklären das Pica-Syndrom so, dass es sich entweder um ein erlerntes Fehlverhalten handelt oder die betroffenen Kinder aufgrund von belastenden Situationen in ihrer Entwicklung einen Schritt zurück machen.

Gelegentlich haben aber auch ansonsten völlig unauffällige Kinder eine Vorliebe dafür, Malfarben, Staub oder andere Substanzen zu essen. Das Verhalten verstärkt sich, wenn die Kinder in einer reizarmen Umgebung aufwachsen und sich langweilen.

Das Pica-Syndrom bei Erwachsenen

Neben Menschen mit schwerwiegenden psychiatrischen Grunderkrankungen – vor allem Schizophrenie und Demenz – sind unter den Erwachsenen meist schwangere Frauen vom Pica-Syndrom betroffen. Besonders häufig essen die betroffenen Frauen Lehm und Eis. Laut verschiedenen Studien ist der Anteil bei Frauen, die in sehr ärmlichen Verhältnissen leben, offenbar deutlich höher als bei Schwangeren aus wohlgenährten Bevölkerungsteilen.

Eine Theorie besagt, dass verschiedene Nährstoffmängel einen Heisshunger auf nicht essbare Stoffe auslösen. Dafür spricht, dass es anscheinend einen Zusammenhang zwischen Pica-Syndrom und Eisenmangel in der Schwangerschaft gibt. Gesichert ist diese These allerdings nicht. Auch gibt es bisher keinen Hinweis auf eine erbliche Veranlagung zum Pica-Syndrom.

Pica-Syndrom: Symptome

Das Hauptsymptom beim Pica-Syndrom besteht darin, dass die Betroffenen Stoffe zu sich nehmen, die eigentlich nicht für den Verzehr geeignet sind. Die Spannbreite hierbei ist gross – während einige Betroffene ganz bestimmte Vorlieben haben und beispielsweise nur Lehm einer bestimmten Sorte essen, nehmen Kinder mit dem Pica-Syndrom manchmal alles zu sich, was sich in den Mund stecken lässt.

In manchen Fällen zeigen die Betroffenen das Verhalten dabei heimlich und schamvoll, in anderen ganz selbstverständlich und regelrecht demonstrativ. Das sonstige Essverhalten und der Appetit auf gewöhnliche Lebensmittel ist bei den meisten unverändert.

Einige Stoffe werden von Menschen mit dem Pica-Syndrom besonders häufig verzehrt:

  • Lehm und Erde (Geophagie)
  • Eis (Pagophagie)
  • Stärke (Amylophagie)
  • Fäkalien (Koprophagie)
  • Haare (Trichophagie)
  • Holz/Papier (Xylophagie)
  • Kreide
  • Farbe

Manchmal lassen sich beim Pica-Syndrom begleitend oder als Folge bestimmte Nährstoffmängel feststellen, zum Beispiel ein Zinkmangel oder eine Eisenmangel-Anämie.

Unter Umständen führt das Essverhalten zu schweren Komplikationen wie Vergiftungen, Verletzungen des Verdauungstrakts (bei spitzen oder scharfkantigen Dingen), Darmverschluss oder Mangelernährung. Auch Infektionen mit Parasiten wie etwa Bandwürmern sind eine mögliche Folge.

Pica-Syndrom: Untersuchungen und Diagnose

Die Diagnose Pica-Syndrom stellt ein Psychiater, Psychotherapeut, Kinderarzt, Kinderpsychologe oder Allgemeinmediziner. Das Wichtigste ist dabei eine ausführliche Anamnese, also ein Gespräch mit dem Betroffenen oder – bei kleinen Kindern oder Menschen mit geistigen Einschränkungen – mit einem Angehörigen.

Dabei fragt der Arzt zum Beispiel, was genau der Betroffene in welchen Situationen und in welchen Mengen konsumiert und auch wie das sonstige Essverhalten aussieht. Auch bekannte körperliche und psychische Vorerkrankungen, eine mögliche Schwangerschaft und Nährstoffmängel klärt er im Rahmen der Anamnese ab.

Wenn der Arzt oder Psychotherapeut den Verdacht auf eine andere psychische Grunderkrankung hat, stellt er gegebenenfalls weitere gezielte Fragen oder lässt den Patienten bestimmte Fragebögen und Tests ausfüllen (etwa Demenz- oder Schizophrenie-Tests).

Körperliche Untersuchungen beim Pica-Syndrom

Zunächst macht sich der Arzt ein Bild davon, ob der Betroffene unterernährt ist oder bestimmte Mangelerscheinungen aufweist. Er kontrolliert das Körpergewicht des Patienten und achtet auf verschiedene Symptome, die auf Nährstoffmängel hindeuten, zum Beispiel Blässe und Haarausfall.

Konsumiert der Betroffene etwa dauerhaft pure Stärke (Amylophagie), ist eine Eisenmangel-Anämie möglich. Kinder und Erwachsene, die Farben oder andere bleihaltige Substanzen zu sich nehmen, riskieren ausserdem eine chronische Bleivergiftung. Eine Blutuntersuchung schafft Gewissheit über Nährstoffmängel, erhöhte Bleiwerte und andere Verschiebungen durch das Pica-Syndrom.

Bildgebende Verfahren wie zum Beispiel eine Röntgenuntersuchung sind dann notwendig, wenn der Betroffene unverdauliche Gegenstände (etwa Nägel) verschluckt hat. Auch das Essen von Haaren (Trichophagie) ist potenziell gefährlich, denn sie bilden im Darm oft unverdauliche Knäuel – sogenannte Bezoare. Auf dem Röntgenbild sind diese nur mit einem Kontrastmittel sichtbar.

Die Diagnose "Pica-Syndrom" stellt der Behandelnde, wenn die Störung über mehr als einen Monat auftritt, die verzehrten Substanzen keinen Nährwert haben, das Verhalten nicht dem Entwicklungsstand entspricht, keine andere psychische Störung vorliegt und das Essverhalten auch nichts mit der Kultur des Betroffenen zu tun hat.

Pica-Syndrom: Behandlung

Da die Hintergründe beim Pica-Syndrom ausgesprochen vielfältig sind, gibt es keine einheitliche Therapie für diese Essstörung. Die Behandlung richtet sich nach dem Alter des Betroffenen und der individuellen Ausprägung und Ursache der Symptomatik. Therapien, die sich als hilfreich erwiesen haben, sind:

  • Bei Kleinkindern über zwei Jahren mit dem Pica-Syndrom ist die erste Massnahme eine sorgfältige Aufsicht. Alles, was das Kind als potenziell essbar betrachtet, sollte aus seiner Reichweite entfernt werden.
  • Wenn bei Menschen mit dem Pica-Syndrom beispielsweise ein Eisen- oder Zinkmangel besteht, ist es unterstützend zur Therapie wichtig, die Nährstoffmängel über eine reichhaltige Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel auszugleichen. Dies gilt insbesondere für schwangere Frauen.
  • Ziel einer Verhaltenstherapie ist es, dass die Betroffenen lernen, ihr krankhaftes Essverhalten abzulegen und stattdessen beispielsweise auf alternative Verhaltensweisen oder Lebensmittel zurückgreifen. Eine Verhaltenstherapie ist in jedem Fall sinnvoll für Menschen, bei denen das Pica-Syndrom über längere Zeit besteht und einen zwanghaften Charakter angenommen hat.
  • Kinder und Erwachsene mit dem Pica-Syndrom, die in ihrer Intelligenz und allgemeinen Entwicklung starke Einschränkungen zeigen, brauchen entsprechend ihrer Bedürfnisse eine heilpädagogische Betreuung – etwa im Wohn-, Schul- und Arbeitsbereich.
  • Bei psychischen Grund- oder Begleiterkrankungen wie Depression, Schizophrenie oder Demenz ist es wichtig, dass diese Krankheiten psychotherapeutisch und gegebenenfalls medikamentös behandelt werden. In Einzelfällen hat sich gezeigt, dass moderne Antidepressiva (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) beim Pica-Syndrom einen positiven Effekt haben.

Wenn durch die verzehrten Dinge eine Selbstgefährdung besteht, nimmt man den Betroffenen in der Regel stationär auf.

Besteht durch die Gegenstände im Verdauungstrakt – etwa Nägel, Glasscherben oder ähnliches – Lebensgefahr, operiert man den Betroffenen, um die Gegenstände zu entfernen.

Pica-Syndrom: Krankheitsverlauf und Prognose

Durch den Verzehr ungeeigneter Stoffe sind Verdauungsbeschwerden, Vergiftungen und Infektionen bei den Betroffenen möglich. Ein langanhaltendes und ausgeprägtes Pica-Syndrom mündet ausserdem oft in eine Unterernährung mit einem Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen. 

Der Verlauf des Pica-Syndroms ist unterschiedlich. Bei einigen Fällen handelt es sich um eine vorübergehende Verhaltensstörung, manche Patienten zeigen dagegen ein Leben lang dieses gestörte Essverhalten. In jedem Fall ist es wichtig, ein Pica-Syndrom so früh wie möglich zu behandeln.

Die Störung verschwindet bei manchen Kindern nach einigen Monaten allerdings auch von alleine.

Pica-Syndrom: Vorbeugen

Das Pica-Syndrom ist eine seltene Erkrankung, gegen die es keine gezielte Vorbeugung gibt. Das Risiko lässt sich im Säuglings- und Kleinkindalter jedoch stark reduzieren, wenn das Kind eine intakte Bindung zu seiner Mutter hat, normal an die Aufnahme geeigneter Lebensmittel gewöhnt wird und ausreichend geistige Anregung erfährt, etwa durch Beschäftigung und geeignetes Spielzeug. Kinder mit geistigen Behinderungen und Entwicklungsverzögerungen brauchen gegebenenfalls eine passende sonderpädagogische Betreuung.

Im Erwachsenenalter ist es wichtig, die eigene Gesundheit auf körperlicher und geistiger Ebene im Auge zu behalten und zu fördern. Wenn sich psychische Probleme anbahnen, scheuen Sie sich nicht, den Rat eines Fachmanns (Psychiater oder Psychotherapeut) in Anspruch zu nehmen.

Achten Sie ausserdem auf eine reichhaltige und ausgewogene Ernährung. Starken Nährstoffmängeln wirken Sie in Absprache mit Ihrem Arzt gezielt mit Nahrungsergänzungsmitteln entgegen. So lässt sich sowohl körperlichen Mangelerscheinungen als auch dem Pica-Syndrom vorbeugen.

Autoren- & Quelleninformationen

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Wissenschaftliche Standards:

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern geprüft.

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ICD-Codes:
F50F98
ICD-Codes sind international gültige Verschlüsselungen für medizinische Diagnosen. Sie finden sich z.B. in Arztbriefen oder auf Arbeitsunfähigkeits­bescheinigungen.
Quellen:
  • Langley-Evans, S.: Nutrition: A Lifespan Approach. Blackwell Publishing. 2013
  • Martin, A. et al.: Lewis's Child and Adolescent Psychiatry. Lippincott Williams & Wilkins. 5. Auflage 2017
  • Möller, H.-J. et al.: Duale Reihe Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme Verlag. 7. Auflage 2022
  • Peters, U.: Lexikon Pyschiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 7. Auflage. Urban & Fischer 2016
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